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III. "Modernes Leben": Diagnosen, Entwürfe, Alternativen
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Überblick: Das Wilhelminische Deutschland 1890-1914   |   I. Wirtschaftliche Entwicklung   |   II. Gesellschaft und Kultur   |   III. "Modernes Leben": Diagnosen, Entwürfe, Alternativen   |   IV. Staat und Gesellschaft   |   V. Politik   |   VI. Außenpolitik   |   Deutschland im Krieg 1914-1918   |   I. Die Kämpfe   |   II. Mobilisierung der Heimatfront   |   III. Entbehrungen und Unruhen an der Heimatfront   |   IV. Der Weg zum Kriegsende

Der Begriff „modern“ ist voller Widersprüche. In der Vielfalt seiner Bedeutungen offenbart sich die Vielschichtigkeit der wilhelminischen Gesellschaft und ihrer Kulturproduktion. Eine neue kommerzielle Massenkultur entstand, in welcher der technologische Wandel und der hohe Alphabetisierungsgrad der Bevölkerung zu einer explosionsartigen Ausbreitung von Druckerzeugnissen führten (Dok. 7). Zeitgenössische Beobachter äußerten sich staunend über die Einheitlichkeit des kulturellen Lebens, jedoch täuschte dieser Eindruck über aufkeimende Kräfte hinweg, die sowohl Rolle als auch Wertvorstellungen des Kaisers in Frage stellten (Dok. 1). In den 1890er Jahren, besonders um die Jahrhundertwende, verbreitete sich unter einer illustren Gruppe aus Kulturkritikern, intellektuellen Avantgarden und Reformern eine deutlich vernehmbare Unzufriedenheit mit der lähmenden Atmosphäre des Bürokratismus (Dok. 2, 3, 14, 17, 18, 19).

In der bildenden Kunst brachen viele Maler mit den Hierarchien der akademischen Kunst, verkörpert in der Person Anton von Werners, um ihre eigenen Ausstellungen, die „Sezessionen“, von den traditionellen Strukturen staatlichen Mäzenatentums zu entbinden. Dabei richteten sie ihre Aufmerksamkeit vor allem auf die Suche nach neuen Formen und Motiven (Dok. 3, 4, 5, 6). Auch in der Literatur befreiten sich junge Schriftsteller von den Vorgaben der alten Meister (Dok. 8). Thomas Mann bediente sich in seinen Buddenbrooks moderner literarischer Verfahren, indem er etwa mit radikalen Perspektivwechseln arbeitete. Seine Schilderung des modernen Bürgertums zeugte von den Belastungen, die der wirtschaftliche und gesellschaftliche Wandel einer Lübecker Kaufmannsfamilie auferlegte (Dok. 9). In der Dichtung inspirierten die Faszination städtischen Lebens, die kaum fassbaren Eindrücke eines sich unentwegt wandelnden Alltags und der Wunsch nach stilistischer Erneuerung die Künstler dazu, zahlreiche neue Wege zu beschreiten. Die deutsche Dichtung erlebte durch schöpferische Innovationen wie August Stramms Beschwörung der Körperlichkeit des gesprochenen Worts und den lyrischen Ästhetizismus Rainer Maria Rilkes eine Blüte, welche die Provinz ebenso erfasste wie die Schlachtfelder (Dok. 10, 11, 12, 13). Die freie Volksbühne sorgte für frischen Wind im Theaterbereich und war gleichzeitig Sprachrohr der sozialistischen Kritik (Dok. 14). Oskar Panizzas Das Liebeskonzil, eine bissige Satire auf die katholische Kirche, war für den größten Teil der Lebenszeit seines Autors verboten (Dok. 15). Die Satire wurde in illustrierten Zeitschriften wie dem Simplicissimus als äußerst wirkungsvolle Waffe eingesetzt und schuf einen Kontrast zum pompösen Auftreten des Kaisers.

Reformbewegungen stellten die wilhelminische Gesellschaft vor bedeutende Herausforderungen. Sie vertraten die Ansprüche vieler, die den Bereich des alltäglichen Lebens verändern wollten – von der Kleidung über den Lebensstil und die Sexualität bis hin zur Erziehung, Jugend, Umwelt, Architektur, Gestaltung von Innenräumen und Stadtplanung. Das „Gesetz gegen die Verunstaltung landschaftlich hervorragender Gegenden“ stand für den Erfolg der Umweltbewegungen (Dok. 16). Paul Schultze-Naumburg, Künstler und Vorkämpfer des Umwelt- und Naturschutzes, befasste sich ebenfalls mit Inneneinrichtung und angewandter Kunst (Dok. 17). Karl Manns „Kraft und Schönheit“ betonte die Gesundheit und den moralischen Nutzen der Freikörperkultur. Julius Langbehn, ein gescheiterter Akademiker, beschwor Rembrandt als den geistigen Vater einer neuen Reformation, welche die Kunst über Politik, Religion und Wissenschaft erheben sollte (Dok. 19).

Gesellschaftstheoretiker versuchten unterdessen, Erkenntnis über viele dieser „modernen“ Entwicklungen zu gewinnen. Ferdinand Tönnies’ Unterscheidung zwischen Gesellschaft und Gemeinschaft und seine Forschungen zur Entwicklung und Struktur moderner Gesellschaften bilden bis heute wichtige Ausgangspunkte für Soziologen (Dok. 20). Ebenso zentral für die moderne Gesellschaftswissenschaft ist der von Max Weber entwickelte Ansatz zum Verständnis sozialer Prozesse, besonders hinsichtlich der Beziehung des einzelnen Menschen zu Religion und Kapitalismus (Dok. 21). In Georg Simmels Gedanken zur Stadt fanden sich viele Motive wieder, welche das künstlerische Schaffen jener Zeit anregten (Dok. 22).


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