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Else Lasker-Schüler, „Oskar Kokoschka” (1913)

Im ersten Jahrzehnt des 20. Jahrhunderts etablierte sich die selbstbewusste „modernistische“ Kunst. Oskar Kokoschka (1886-1980), ein junger vom Jugendstil maßgeblich beeinflusster Wienerischer Künstler, zog im Mai 1910 nach Berlin, wo er einige Monate zuvor seine erste erfolgreiche Ausstellung gestaltet hatte. Berlin galt zu diesem Zeitpunkt als Hochburg künstlerischen Experimentierwillens. Kokoschka wurde rasch zum Mitarbeiter der neuen einflussreichen Zeitschrift „Sturm“, die die neuen Strömungen in der visuellen Kunst vertrat. Obwohl der Traditionalismus Bestandteil der von offizieller Seite geförderten Berliner Kultur blieb, macht die folgende Kritik der Lyrikerin Else Lasker-Schüler (1869-1945) deutlich, dass neue Ansätze und stilistische Innovationen mehr und mehr als künstlerische Leistung verstanden wurden. Lasker-Schüler argumentiert in ihrer Analyse, dass Kokoschka sich in vielen Punkten vom Stil des ebenfalls innovativen Künstlers Gustav Klimt löste.

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Wir schreiten sofort durch den großen in den kleinen Zeichensaal, einen Zwinger von Bärinnen, tappischtänzelnde Weibskörper aus einem altgermanischen Festzuge; Met fließt unter ihren Fellhäuten. Mein Begleiter flüchtet in den großen Saal zurück, er ist ein Troubadour; die Herzogin von Montesquieu-Rohan ist lauschender nach seinem Liede als das Bärenweib auf plumpen Knollensohlen. Denn Treibhauswunder sind Kokoschkas Prinzessinnen, man kann ihre feinen Staub- und Raubfäden zählen. Blutsaugende Pflanzlichkeiten alle seine atmenden Schöpfungen; ihre erschütternde Ähnlichkeitswahrheit verschleiert ein Duft aus Höflichkeit gewonnen. Warum denke ich plötzlich an Klimt? Er ist Botaniker, Kokoschka Pflanzer. Wo Klimt pflückt, gräbt Kokoschka die Wurzel aus – wo Klimt den Menschen entfaltet, gedeiht eine Farm Geschöpfe aus Kokoschkas Farben. Ich schaudere vor den rissig gewordenen spitzen Fangzähnen dort im bläulichen Fleisch des Greisenmundes, aber auf dem Bilde der lachende Italiener zerrt gierig am Genuß des prangenden Lebens. Kokoschka wie Klimt oder Klimt wie Kokoschka sehen und säen das Tier im Menschen und ernten es nach ihrer Farbe. Liebesmüde läßt die Dame den schmeichelnden Leib aus grausamen Träumen zur Erde gleiten, immer wird sie sanft auf ihren rosenweißen Krallen fallen. Das Gerippe der männlichen Hand gegenüber dem Frauenbilde ist ein zeitloses Blatt, seine gewaltige Blume ist des Dalai Lamas Haupt. Auch den Wiener bekannten Architekten erkenne ich am Lauschen seiner bösen Gorillenpupillen und seiner stummen Affengeschwindigkeit wieder, ein Tanz ohne Musik. Mein Begleiter weist mit einer Troubadourgeste auf meinen blonden Hamlet; in ironischer Kriegshaltung kämpft Herwarth Walden gegen den kargen argen Geist. Auf allen Bildern Kokoschkas steht ein Strahl. Aus der Schwermutfarbe des Bethlehemhimmels reichen zwei Marienhände das Kind. Viele Wolken und Sonnen und Welten nahen, Blaut tritt aus Blau. Der Schnee brennt auf seiner Schneelandschaft. Sie ist ehrwürdig wie eine Jubiläumsvergangenheit: Dürer, Grünewald.

Oskar Kokoschkas Malerei ist eine junge Priestergestalt, himmelnd seine blauerfüllten Augen und zögernd und hochmütig. Er berührt die Menschen wie Dinge und stellt sie, barmherzige Figürchen, lächelnd auf seine Hand. Immer sehe ich ihn wie durch eine Lupe, ich glaube, er ist ein Riese. Breite Schultern ruhen auf seinem schlanken Stamm, seine doppelt gewölbte Stirn denkt zweifach. Ein schweigender Hindu, erwählt und geweiht – seine Zunge ungelöst.



Quelle: Else Lasker-Schüler, „Oskar Kokoschka“, in Gesichte. Essays und andere Geschichten. Leipzig: Kurt Wolff Verlag, 1913.

Abgedruckt in Jürgen Schutte und Peter Sprengel, Die Berliner Moderne 1885-1914. Stuttgart, 1987, S. 577-78.

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