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Otto Brahm, „Die Freie Volksbühne” (1890)

Bruno Wille (1860-1928) gründete im März 1890 die Freie Volksbühne. Sie richtete sich an ein Arbeiterpublikum und war als „sozialdemokratisches“ Theater konzipiert: Sie sollte auf die Stimmungslage der Arbeiterschichten eingehen und ihrem politischen Organisationsbedarf entgegenkommen, denn zu dem Zeitpunkt, als das Theater entstand, war die Sozialdemokratische Partei noch verboten – erst, als das Sozialistengesetz um die Mitternachtsstunde des 30. September 1890 erlosch, erhielt sie den Status einer legalen Vereinigung. Der folgende Bericht zeigt jedoch, dass sozialdemokratische Organisationen bereits vorher Einfluss auf die deutsche Arbeiterschicht ausübten und sie politisch mobilisierten.

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Ein weiter, dichtgefüllter Saal, eine tausendköpfige Schar von Männern und Frauen, ausharrend bis über die Mitternacht in hingebender Aufmerksamkeit, eine enthusiastische Einstimmigkeit in den Zielen – das war das Bild, welches die erste Versammlung zur Begründung einer Freien Volksbühne, Dienstag, den 29. Juli im Böhmischen Brauhaus, gewährte.

Der Gedanke, eine Freie Volksbühne zu errichten, ist ausgegangen von Sozialisten. Die Versammlung, welche die Verwirklichung des Planes beschloß, war eine sozialistische. Und Sozialisten werden unter den Mitgliedern des Vereins die Mehrheit bilden. Art und Bedeutung des neuen Unternehmens bestimmt sich von hier aus.

Zwar das Schlagwort, das die Zeitungen aufgebracht haben, wies der Begründer der Freien Volksbühne, Herr Dr. Bruno Wille, mit Recht zurück: »ein sozialdemokratisches Theater«. So wenig die Modebühnen, welche dem Geschmack breiter Massen des Bürgertums genugtun, fortschrittliche und nationalliberale Theater sind, so wenig ist ein sozialdemokratisches Theater, im strikten Wortsinn, zu denken. Aus dem einfachen Grunde: weil es wohl ein sozialistisches Publikum, aber keine sozialistischen Dramen geben kann. Wo die Partei siegt, stirbt das Kunstwerk.

Aber wenn auch nicht Parteipolitik den Spielplan der Freien Volksbühne beherrschen soll, und wenn auch auf Lassalles »Ferdinand von Sickingen« gleich im Anfang verzichtet wurde, so wird doch, wie durch das Publikum so durch die Stücke der Volksbühne, »ein sozialkritischer Hauch« gehen, nach Willes Wort. Ibsen und Tolstoi von den Ausländern, Hauptmann, Holz und Schlaf von den Deutschen stehen auf dem Spielplan obenan: die Dramen sozialkritischen Geistes; »Robespierre« von Griepenkerl, »Dantons Tod« von Büchner stellen den Zusammenhang mit den Revolutionsideen dar; und weil von Julius Harts, Bleibtreus und Albertis Dramen weder dieses noch jenes gilt, darum zeigen sie sich auf dem Spielplan nur aus der Ferne an, nebelhaft.

Der maßvolle Sinn, der aus diesen Entwürfen spricht, weckt für das neue Unternehmen das beste Vorurteil. Während unter den Sozialisten striktester Observanz Ibsen zu den Bourgeois geworfen wird, während man mit vielem Aufwand nachzuweisen sucht, daß Ibsens poetische Weltanschauung und Karl Marx' wissenschaftliche Weltanschauung zweierlei sind, will die Freie Volksbühne breiten Raum geben für den Dichter der »Nora«, der »Gespenster«, des »Volksfeindes« und der »Stützen der Gesellschaft«, denn sie ist nicht fanatisch genug, um zu verkennen: daß dieser »aristokratische Radikalist«, wie man heute sagt, mit seinem trotzigen Glauben an das

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