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III. SS und Polizei
Druckfassung

Überblick   |   I. Aufbau des NS-Regimes   |   II. Der NS-Staat   |   III. SS und Polizei   |   IV. Der organisierte Widerstand   |   V. Rassenpolitik   |   VI. Militär, Außenpolitik und Krieg   |   VII. Arbeit und Wirtschaft   |   VIII. Geschlechterrollen, Familie und Generationen   |   IX. Religion   |   X. Literatur, Kunst und Musik   |   XI. Propaganda und die Öffentlichkeit   |   XII. Region, Stadt und Land   |   XIII. Wissenschaft

Inzwischen ist die Vorstellung, dass Nazi-Deutschland einen übermächtigen Polizeiapparat besessen habe, der die allgemeine Bevölkerung vollkommen terrorisierte oder einschüchterte, von der Forschung widerlegt worden (8). Von 1933 bis 1939 hatten Deutsche mit den richtigen „rassischen“ Merkmalen und ohne eine Vorgeschichte politischer Opposition gegen die Nazis wenig zu befürchten, vorausgesetzt, sie sprachen sich nicht öffentlich gegen das Regime aus. Die Polizeikräfte waren weder so zahlreich noch so effizient, dass sie die gesamte Bevölkerung hätten lückenlos überwachen können; sie waren für Informationen über Verstöße gegen das Gesetz oder die Verhaltensmaßregeln der Nazis vielmehr auf Kooperation – und Informanten – aus der Bevölkerung angewiesen. Oft bekamen sie, was sie brauchten, teilweise deshalb, weil das Nazi-Regime populär war – und Hitler insbesondere. Nachdem der Krieg begonnen hatte, verschärften hochrangige SS-Funktionäre jedoch ihre Sicherheitsstandards. Besessen von dem, was sie als Zusammenbruch der deutschen Moral während des Ersten Weltkrieges ansahen, wollten Hitler und Himmler eine Wiederholungssituation vermeiden. Dementsprechend gab Heydrich einen strengen Erlass heraus, der das Äußern von Zweifeln über einen militärischen Sieg Deutschlands unter Strafe stellte. Seine Richtlinien erwähnen die „Sonderbehandlung“, einer der vielen Nazi-Euphemismen, in diesem Fall für die Hinrichtung.

Der Kriegszustand bot den Nazis eine willkommene Gelegenheit, die deutsche Gesellschaft von „unreinen“ oder „unerwünschten“ Elementen zu säubern. Zusätzliche Konzentrationslager wurden in den annektierten oder besetzten Gebieten errichtet, teilweise um potenzielle oder tatsächliche Herde des Widerstands gegen die lokale Herrschaft der Nazis auszulöschen. Am 2. Januar 1941 versuchte Heydrich, ein gewisses Maß an Logik in das sich ausweitende Lagersystem zu bringen, indem er die Gefangenen nach der Schwere ihrer Vergehen kategorisierte und sie den entsprechenden Lagern zuteilte. Sein Erlass wurde u.a. an das RSHA, alle Staatspolizei(leit)stellen, alle Kommandeure von Sicherheitspolizei und Sicherheitsdienst sowie an die Lagerkommandanten verteilt, jedoch nicht an die örtlichen Polizeistellen. Diskrepanzen im Zugang zu Informationen charakterisierten nicht nur die SS, sondern auch das Regime als Ganzes. Heydrichs Erlass verdeutlicht zudem einen weiteren Punkt: nämlich dass die Ausweitung des Lagersystems bereits geplant war, als sein Schreiben verteilt wurde. Hier ist seine Erwähnung von Auschwitz I und Auschwitz II besonders wichtig, da Auschwitz im Januar 1941 noch aus einem einzigen Lager hauptsächlich für polnische Gefangene bestand.

Letztlich spiegelte das sich ausdehnende Lagersystem nicht die abgestuften Kategorien wider, die Heydrich entworfen hatte. Stattdessen trugen die Besetzung weiterer Gebiete, Arbeitskräftemangel und eine verschärfte Verfolgung zu einer allgemeinen Ausweitung und Auffächerung des Lagersystems unter der Leitung des ehemaligen Marineoffiziers Oswald Pohl (1892-1951) bei, der einer der zuverlässigsten Untergebenen Himmlers war. 1942 wurde Pohl Leiter des umstrukturierten SS-Wirtschafts- und Verwaltungshauptamt. Obwohl Pohl bereits seit Beginn des Krieges die Aufsicht über die meisten Wirtschafts- und Verwaltungsangelegenheiten hatte, bedeutete die Unterstellung des Lagersystems unter sein Amt einen erweiterten Verantwortungsbereich.

Pohls Bericht vom 30. April 1942 umreißt die Entwicklung der Konzentrationslager und hebt die verstärkte Nutzung der Häftlingsarbeit zur Steigerung der Rüstungsproduktion hervor. Bestimmte Lager wurden jedoch auch genutzt, um Personen zu „verwahren“, die unter Verdacht standen, sich am Widerstand gegen die deutsche Besetzung beteiligt zu haben. Am 7. Dezember 1941 hatte Hitler den „Nacht-und-Nebel-Erlass“ erteilt, in dem er das „Verschwinden“ (geheime Festnahme, Verschleppung nach Deutschland und Inhaftierung) solcher Verdächtigter anordnete.

Um ein Bild des täglichen Lebens in den Lagern rekonstruieren zu können, haben Historiker in großem Umfang Interviews mit befreiten Gefangenen, mündliche Überlieferungen, Nachkriegserinnerungen und selbst Romane von Überlebenden verwendet. Ein solcher historischer Bericht wurde von Benedikt Kautsky (1894-1960) geliefert, der die Gefangenschaft in Dachau, Buchenwald und Auschwitz von 1938 bis 1945 überlebte. Benedikt Kautsky war der Sohn des bekannten politischen Denkers und prominenten deutschen Sozialdemokraten Karl Kautsky (1854-1938), in seinem Bericht gliederte er die interne Hierarchie der Lagerinsassen auf und beschrieb den täglichen Kampf ums Überleben (9).



(8) Vgl. z.B. Robert Gellately, Backing Hitler: Consent and Coercion in Nazi Germany. New York: Oxford University Press, 2001 (dt.: Robert Gellately, Hingeschaut und weggesehen. Hitler und sein Volk, übersetzt von Holger Fliessbach. Stuttgart: Deutsche Verlags-Anstalt, 2002).
(9) Kautskys Beispiel der Analyse sozialer Abgrenzung unter Gefangenen folgend, Wolfgang Sofsky, Die Ordnung des Terrors: Das Konzentrationslager. Frankfurt a.M.: S. Fischer, 1993.

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