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Erinnerungen eines jüdischen Kindes an die „Konvertierung” seiner Familie von der Orthodoxie zum Reformjudentum (1880er Jahre)

Die Integration oder Assimilation der Juden in die deutsche Gesellschaft wurde nicht nur zwischen Juden und Nichtjuden entschieden. Wie der Auszug aus den Erinnerungen Victor Klemperers (1881-1960) verdeutlicht, sahen sich liberale Juden bei dem Versuch, sich zwischen orthodoxem Judentum und Bekräftigung ihres Deutschtums zu bewegen, mit Problemen in ihrer eigenen Religionsgemeinschaft konfrontiert. Als Klemperers Familie 1884 nach Bromberg zog, trat diese Spannung in den Vordergrund, doch sie lieferte auch die passende Gelegenheit, zu „konvertieren“ – nicht zum Christentum, sondern zum liberalen Reformjudentum.

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Unmittelbar an diese Hochzeitsfeier reiht sich in meinem Erinnern das entscheidende und abschließende Ereignis dieser ersten Epoche.

Vater ist verreist. Er fährt manchmal zu Trauungen und Beerdigungen in kleine Nachbarorte, ist aber immer abends zurück. Diesmal soll er drei Tage fort sein, seine Abreise ist mit Geheimnis und Erregung umgeben, und Mutter bleibt in einer deutlichen Beklommenheit zurück. Dann kommt ein Telegramm, wird mit höchster Spannung aufgerissen, mit Entzücken verlesen. Die fünf Worte haften in mir für immer wie ein Schicksalsspruch: »Ging gottlob alles gut. Wilhelm.«

Das wichtigste der fünf ist »gottlob«. Es hat Zeiten gegeben, in denen ich es für eine bis zur Gedankenlosigkeit mechanisierte Interjektion des Absenders hielt, auch aufrührerische Zeiten, in denen ich es als eine in Fleisch und Blut übergegangene Heuchelei auffaßte. Beides ist bestimmt unrichtig. Sicherlich hatten eigenes Denken und die positivistische Zeitströmung, dazu die sarkastische Skepsis seiner ältesten Söhne den Kinderglauben meines Vaters schon damals angetastet: Eine individuelle Unsterblichkeit, ein irdisch dekoriertes Jenseits wird es kaum noch für ihn gegeben haben. Doch ebenso gewiß ist das vermenschlichte Bild des persönlichen Schöpfers, des unbegreiflichen und strengen, im Grunde aber doch gütigen alten Herrn irgendwo über den Wolken niemals aus der Vorstellung seines Herzens verdrängt worden und hat ihn immer getröstet. Freilich – und das gibt erst dem frommen Stoßseufzer seines Telegramms die volle Berechtigung –, freilich war sein religiöses Credo, gleich dem der gemäßigten Rationalisten unter den Aufklärern des achtzehnten Jahrhunderts, mit diesem einen Punkt des Glaubens an den persönlichen Gott völlig erschöpft. Die jüdische Religion war ihm lieb, weil sie keinen Wunderglauben von ihm forderte. Was sie ihm aber an äußeren Bindungen, als Festriten und Speisegesetze, auferlegte, das empfand er als sinnlos gewordene Überbleibsel eines früheren Menschheitsstadiums und als lästige Fessel. Und diese Fessel mußte ihn in Bromberg ungleich ärger scheuern als vordem in Landsberg. Landsberg lag in der Provinz Brandenburg, dort war er der »Prediger Dr. Klemperer« gewesen. Bromberg lag in der Provinz Posen, es hatte wesentlich östlichere Verhältnisse. Hier war er der Rabbiner einer polnisch angehauchten Gemeinde, von den deutschen Mitbürgern abgetrennt, von den Mitgliedern seiner Gemeinde zur Orthodoxie gezwungen und in seiner Orthodoxie überwacht. Ich sehe Vater in der Küche, mit der linken Hand hält er einen Gänsemagen dicht unter die kurzsichtigen Augen, mit der rechten ein stocherndes Taschenmesser, das gewöhnlich zum Köpfen der Zigarren dient. In dem Magen steckt ein Nagel, deutlich blinkt die Spitze durch die Außenwand. Ist der Magen durchbohrt, so gilt die Gans als unrein und darf nicht gegessen werden. Eine

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