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Studienplatz als Mangelware (1974)

Erst seit 1973 wurden in der Bundesrepublik Studienplätze in bestimmten Fächern durch eine Zentralstelle bundesweit verteilt, um die Überlastung zu verringern und die Gerechtigkeit im Hochschulzugang zu vergrößern, doch die Probleme wurden dadurch nicht gelöst.

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Ulrike K. und das Chaos in der Bildungspolitik. Tausende von Abiturienten werden nie eine Chance haben, ein Studium zu beginnen



Ulrike K. bestand ihr Abitur in diesem Jahr mit der Durchschnittsnote 1,7. Die Chance, einen Studienplatz für Medizin zu bekommen, verpaßte sie knapp mit 0,1 Punkten. Ihr Pech verdankt sie dem pädagogischen Rat ihrer Lehrer. Die Siebzehnjährige übersprang zweimal eine Klasse.

Im Düsseldorfer Wissenschaftsministerium rätselten die Verwalter der „Studienplatz-Guillotine”, der Zentralstelle zur Vergabe von Studienplätzen (ZVS) in Dortmund, ob Ulrike ein „sozialer Härtefall” ist. Die gutgemeinten Entscheidungen der Lehrer verbauten einer ungewöhnlich begabten Schülerin praktisch die Chance, zwei Jahre später einen noch besseren Notendurchschnitt zu erreichen. Da im Staatsvertrag über die Vergabe von Studienplätzen ein solcher Fall aber nicht vorgesehen ist, gingen die Juristen auf diese Argumentation nicht ein. Sichtlich berührt und betroffen stellt Staatssekretär Herbert Schnoor (SPD) fest: „So geht ein Volk mit seinen Hochbegabten um.”

Für Ulrike rückt jetzt der Medizin-Studienplatz weite Ferne. Der Andrang ist so groß, daß die Note immer tiefer sinkt: 1,5, 1,4... 1,0. Die Abgelehnten rutschen auf die sogenannte Wartezeitliste. Sie ist so lang, daß diejenigen, die im nächsten Jahr mit einer mehrstelligen Nummer darauf gesetzt werden, erst in zehn Jahren an die Reihe kämen. Zehnjährige Wartezeiten aber sieht der Staatsvertrag überhaupt nicht vor, weil das Abiturzeugnis der Bewerber nicht älter als acht Jahre sein darf. „Das ist aus ökonomischen, menschlichen und sozialen Gründen nicht anders möglich”, meint Schnoor.

Der Staatsvertrag, den die Kultusminister der Länder 1972 eilig zusammenbastelten, um dem Bund zu zeigen, wie gut man solche Probleme lösen kann, läuft heute bereits ins Leere. Die ZVS in der Dortmunder Sonnenstraße wird, je mehr sie die Studiengänge sämtlicher Universitäten, Fachhochschulen, Gesamthochschulen zentral verwaltet, zur „Steuerungsstelle des bundesdeutschen Bildungswesens” (Schnoor). Der Gang dorthin „wird ein Gang zum Schafott” (Wissenschaftsminister Johannes Rau).

Immer mehr Jugendliche, die nach mehr oder weniger mühevollen Jahren ein Papier in der Hand haben, das zum Studium berechtigt, merken enttäuscht, daß sie mit dem Abiturzeugnis oder einem gleichwertigen Abschluß eine Berechtigung erhielten, die nicht eingelöst wird. Weder Bundesländer noch Bildungspolitiker erwägen, die Hochschulen so auszubauen oder vollzustopfen, daß alle zugelassen werden können. Landauf, landab wird gedrosselt, gestrichen und gekürzt. Und nach welchem Verfahren auch immer Studienplätze verteilt werden: Ihre Zahl wird in den nächsten Jahren nicht steigen. Tausende von Berechtigten haben keine Chance, zu studieren.

„Die Auswirkungen auf die Schule, tief in die Familien der einzelnen Jugendlichen hinein, in die Gesellschaft und das Beschäftigungssystem sind katastrophal”, warnt Schnoor eindringlich. Nicht nur er, sondern auch seine Kollegen aus den meisten anderen Bundesländern und alle anderen Experten quer durch die parteipolitischen Fronten wissen, was an Enttäuschungen und politischem Hader bevorsteht, wenn der Übergang von der Schule zur Hochschule, die Stellung der Schule zur Hochschule nicht so schnell wie möglich geregelt wird. Aber fast alle Kultusminister der Länder (Bayern tanzt aus der Reihe) wissen, daß eine Neufassung des Staatsvertrages, der alle elf Länder mehrheitlich zustimmen müßten, „politisch einfach nicht drin ist” (Johannes Rau).

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