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Deutsch-französische Freundschaft in der 70er Jahren (Rückblick, 1996)

In seinen Erinnerungen betont der ehemalige Bundeskanzler Helmut Schmidt das gemeinsame Interesse Frankreichs und Deutschlands an der europäischen Integration und rekapituliert die Erfolge seiner engen Zusammenarbeit mit dem französischen Präsidenten Valéry Giscard d’Estaing, die von Direktwahlen zum europäischen Parlament bis zum Europäischen Währungssystem reichten.

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[ . . . ] Wer auch immer an der Spitze Frankreichs steht, sieht sich veranlaßt, die langfristigen strategisch-politischen Interessen seines Landes zu analysieren. Frankreichs Interesse an Deutschland lag und liegt in einer engen Einbindung der Deutschen in einen größeren (west-) europäischen Verbund und deshalb in einer engen Kooperation zwischen der französischen und der deutschen Politik. Dies ist das kardinale Motiv für Frankreichs europäische Integrationspolitik seit Jean Monnet und Robert Schuman – und nicht etwa ein allgemeiner Europa-Idealismus, den es daneben auch gibt. Dieses kardinale Motiv gewinnt seit der deutschen Vereinigung zusätzlich an Gewicht; denn inzwischen übertrifft die Einwohnerzahl Deutschlands diejenige Frankreichs um bald die Hälfte. Sofern nicht von deutscher Seite ganz außerordentliche Fehler gemacht werden, wird jeder französische Präsident dieses strategische Motiv Frankreichs verfolgen. Das gilt mit hoher Wahrscheinlichkeit auch für Jacques Chirac.

Die enge Zusammenarbeit mit Frankreich und die Selbsteinbindung Deutschlands liegen aber auch in unserem eigenen kardinalen Interesse. Die politische Klasse Deutschlands stimmt in diesem lebenswichtigen Punkt mit der politischen Klasse Frankreichs überein. Wer auf die letzten zwei Jahrhunderte und auf vier Kriege zwischen Franzosen und Deutschen zurückblickt – von Napoleon bis zu Hitler –, der muß erkennen: Die Aufrechterhaltung dieser Übereinstimmung ist der Garant für den Frieden zwischen den beiden Völkern.

Gleichwohl wird es über wichtige Fragen immer wieder auch zu Meinungsverschiedenheiten zwischen Paris und Bonn oder dann Berlin kommen. Sie können das Verhältnis zu den USA oder Rußland betreffen oder die Konflikte auf dem Balkan. Es wird Differenzen geben über die »Südpolitik« der EU, über das Gewicht Italiens, Spaniens, Portugals, für Frankreich wichtigere Handelspartner als für uns, und über die Mittelmeerpolitik. Andererseits haben wir Deutsche wegen unserer unmittelbaren Nachbarschaft ein deutlich größeres Interesse an der Einbeziehung Polens und Tschechiens in die EU. Auch im Blick auf die Institutionen, die Finanzierung der EU und die Agrarpolitik werden Spannungen nicht ausbleiben. Wenn aber Deutsche und Franzosen ihr gemeinsames Interesse im Auge behalten, so werden sie diese Differenzen überbrücken.*

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* Über Mitterand habe ich bereits ausführlich in meinem Buche »Die Deutschen und ihre Nachbarn« berichtet.

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