GHDI logo

Moses Mendelssohn, Antwort an Johann Caspar Lavater (1769)

Seite 4 von 6    Druckfassung    zurück zur Liste vorheriges Dokument      nächstes Dokument


Ich habe das Glück, so manchen vortreflichen Mann, der nicht meines Glaubens ist, zum Freunde zu haben. Wir lieben uns aufrichtig, ob wir gleich vermuthen, und voraussetzen, daß wir in Glaubenssachen ganz verschiedener Meinungen sind. Ich genieße die Wollust ihres Umganges, der mich bessert und ergötzt. Niemals hat mir mein Herz heimlich zugerufen: Schade für die schöne Seele! Wer da glaubet, daß außerhalb seiner Kirche keine Seeligkeit zu finden sey, dem müssen dergleichen Seufzer gar oft in der Brust aufsteigen.

Es ist zwar die natürliche Verbindlichkeit eines jeden Sterblichen, Erkenntnis und Tugend unter seinen Nebenmenschen auszubreiten, und die Vorurtheile und Irrthümer derselben nach Vermögen zu vertilgen. In dieser Betrachtung, könnte man glauben, sey es die Schuldigkeit eines jeden Menschen, die Religionsmeinungen, die er für irrig hält, öffentlich zu bestreiten. Allein nicht alle Vorurtheile sind von gleicher Schädlichkeit, und daher müssen auch nicht alle Vorurtheile, die wir bey unsern Nebenmenschen wahrzunehmen glauben, auf einerley Weise behandelt werden. Einige sind der Glückseeligkeit des menschlichen Geschlechts unmittelbar zuwider. Ihr Einfluß auf die Sitten der Menschen ist offenbar verderblich, und man hat auch nicht einmal einen zufälligen Nutzen von ihnen zu erwarten. Diese müssen von jedem Menschenfreunde geradezu angegriffen werden. Der gerade Weg auf sie loszugehen, ist unstreitig der beste, und jede Verzögerung durch Umwege unverantwortlich. Von dieser Art sind alle Irrthümer und Vorurtheile der Menschen, die ihre eigene oder ihrer Nebenmenschen Ruhe und Zufriedenheit stöhren, und jeden Keim des Wahren und Guten in dem Menschen tödten, bevor er zum Ausbruche kommen kann. Von der einen Seite Fanatismus, Menschenhaß, Verfolgungsgeist, und von der andern Seite Leichtsinn, Ueppigkeit, und unsittliche Freygeisterey.

Zuweilen gehören aber die Meinungen meiner Nebenmenschen, die ich nach meiner Ueberzeugung für Irrthümer halte, zu den höhern theoretischen Grundsätzen, die von dem Praktischen zu weit entfernt sind, um unmittelbar schädlich zu seyn; sie machen aber, eben ihrer Allgemeinheit wegen, die Grundlage aus, auf welchem das Volk, welches sie heget, das System seiner Sittenlehre und Geselligkeit aufgeführt hat, und sind also zufälligerweise diesem Theile des menschlichen Geschlechts von großer Wichtigkeit geworden. Solche Lehrsätze öffentlich bestreiten, weil sie uns Vorurtheile dünken, heißt ohne das Gebäude zu unterstützen, den Grund durchwühlen, um zu untersuchen, ob er fest und sicher ist. Wer mehr für das Wohl der Menschen, als für seinen eigenen Ruhm sorget, wird über Vorurtheile von dieser Art seine Meinung zurück halten, sich hüten, sie geradezu, und ohne die größeste Behutsamkeit anzugreifen, um nicht ein ihm verdächtiges Principium der Sittlichkeit umzustossen, bevor seine Nebenmenschen das Wahre angenommen, das er an die Stelle setzen will.

Ich kann also gar wohl bey meinen Mitbürgern Nationalvorurtheile und irrige Religionsmeinungen zu erkennen glauben, und dennoch verbunden seyn, zu schweigen, wenn diese Irrthümer weder die natürliche Religion, noch das natürliche Gesetz unmittelbar zu Grunde richten, und vielmehr zufälligerweise mit der Beförderung des Guten verknüpft sind. Es ist wahr, die Sittlichkeit unserer Handlungen verdienet diesen Namen kaum, wenn sie auf Irrthum gegründet ist, und die Beförderung des Guten muß allezeit von der Wahrheit, wenn sie erkannt wird, weit besser und sicherer erhalten werden können, als von dem Vorurtheil. Allein so lange sie nicht erkannt wird, so lange sie nicht national geworden ist, um auf den großen Haufen so mächtig wirken zu können, als das eingewurzelte Vorurtheil, muß dieses einem jeden Freunde der Tugend beynahe heilig seyn.

Man ist zu dieser Bescheidenheit um so viel mehr verbunden, wenn die Nation, welche nach unserer Meinung dergleichen Irrthümer heget, sich übrigens durch Tugend und Weisheit verehrenswerth gemacht hat, und eine Menge großer Männer unter sich zählet, die Wohlthäter des menschlichen Geschlechts genennt zu werden verdienen. Ein so edler Theil der Menschheit muß auch da, wo ihm etwas Menschliches begegnet, mit Ehrfurcht verschont werden. Wer darf sich erkühnen, die Vortreflichkeiten einer so erhabenen Nation aus den Augen zu setzen, und sie da anzugreiffen, wo er eine Schwäche bemerkt zu haben glaubet?

erste Seite < vorherige Seite   |   nächste Seite > letzte Seite