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Joachim Heinrich Campe, „Brief aus Paris, 1789”, aus seinen Briefen aus Paris (1790)

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Schon der bloße Anblick einer ungeheuern, aus Menschen aller Stände, jeglichen Alters und beiderlei Geschlechts zusammengeflossenen Volksmasse, welche von einerlei patriotischen Freude wie von einerlei freundschaftlichen, brüderlichen und schwesterlichen Gesinnungen beseelt zu sein scheint, hat etwas menschlich Großes und Herzerhebendes. Aber wenn man nun vollends auf den öffentlichen Versammlungsplätzen dieser Stadt, den Tuilerien, dem Palais-Royal, den Boulevards und so weiter, in die sanftwallenden Wogen dieses menschlichen Ozeans sich selbst hineinstürzt, wie hier jeder, auch der fremdeste Fremdling, ungescheut und ohne alle Bedenklichkeit tun darf, und nun jene Vermischung und Zusammenschmelzung aller Stände, besonders des Militär- und Bürgerstandes, zu einer einzigen großen Bürgerfamilie in der Nähe beobachtet; sieht, wie nunmehr der gemeinste Bürger und der Mann, den Band und Stern bezeichnen, überall, wo beide als Menschen und nicht in ihren Amtsverhältnissen auftreten, zu völlig gleichen Paaren gehen, ohne Unverschämtheit auf der einen, ohne beleidigenden Stolz auf der anderen Seite zu verraten; sieht, wie der Soldat des Vaterlandes – dies ist der Ehrentitel, den man hier jetzt der zur Bürgerschaft übergetretenen französischen Garde gibt – und der bewaffnete Bürger an Großmut und Dankbarkeit wie an gemeinschaftlicher Bemühung, öffentliche Ruhe und Ordnung nicht durch Bajonette, sondern durch Bitten und freundliches Zureden zu erhalten, miteinander wetteifern; sieht, wie dieses Zureden und jenes Bitten vollkommen hinreichend sind, einen vermischten Haufen von hunderttausend exaltierten Menschen in den Schranken der Ordnung und der Sittsamkeit zu erhalten; sieht, wie sogar die kleinsten Knaben, von dem hohen Bürgersinn und dem Freiheitsenthusiasmus ihrer Väter ergriffen, nach ihrer Weise bewaffnet und mit Fahnen und Trommeln versehen, in großen Scharen durch die Straßen ziehen und an der Erhaltung der Ordnung und Ruhe teilzunehmen scheinen; sieht, wie zu einer Zeit, da alle Gemüter in aufbrausender Gärung sind, da beinahe eine völlige Anarchie durchs ganze Reich herrscht und da die große, aus mehreren tausend Rädern zusammengesetzte furchtbare Maschine der ehemaligen Pariser Polizei gänzlich zertrümmert ist, gleichwohl überall, sogar beim größten Volksgedränge, alles so ruhig, so friedlich, so anständig und sittlich zugeht, daß man stundenlang dastehen und die wimmelnde Menge von lebhaften Empfindungen beseelter Menschen unverrückt im Auge behalten kann, ohne auch nur ein einziges Mal eine einzige unanständige oder gesetzwidrige Handlung zu bemerken, ohne auch nur ein einziges Mal ein beleidigendes, scheltendes oder zankendes Wort zu hören; wenn man, sage ich, dies alles, was jedem Abwesenden übertrieben und unglaublich klingen muß, hier mit eigenen Augen sieht, so oftmals wiedersieht, daß man es am Ende für kein Blendwerk, für keinen Traum mehr halten kann, so müßte man, meine ich, unter allen menschlichen Klötzen der stumpfeste und fühlloseste sein, wenn man sich über dieses Erwachen der Menschheit zu einem so schönen, neuen und edlen Leben nicht oft bis zu Freudentränen gerührt fühlte. Welch ein Schauspiel für den, der für Menschenveredelung und Menschenbeglückung noch unverdorbene Sinne und ein warmes teilnehmendes Herz für alles hat, was das Emporkommen der großen Adamsfamilie angeht! Welch ein Beispiel für das ganze übrige Europa und für alle ihrer menschlichen Rechte und des göttlichen Ebenbildes, das ist der menschlichen Würde und Selbständigkeit, beraubten Menschen in allen fünf Weltteilen! Wahrlich, der ärgste Despot, wäre er hier, um ein Augenzeuge von dem allen zu sein, und wäre sein von selbstsüchtigen und ehrgeizigen Begierden zusammengeschrumpftes und ausgedörrtes Herz noch der geringsten menschlichen und edelmütigen Aufwallung fähig – er würde, glaube ich, von einer unwiderstehlichen sympathetischen Gewalt ergriffen, sich geneigt fühlen, auf seine unrechtmäßige willkürliche Herrschaft – denn wo gab es jemals eine rechtmäßige – freiwillig Verzicht tun, um des großen Anblicks, den ein frei gewordenes und dadurch auch zugleich moralisch wiedergeborenes, veredeltes und beglücktes Volk gewährt, noch einmal, und zwar mit dem Zusatze von Vaterfreude zu genießen, den das Bewußtsein, der Urheber davon zu sein, notwendig mit sich führen müßte.

Sie sagen, ich schwärme. Gut, mein Lieber; ich freue mich, daß ich bei einer solchen Veranlassung noch erwärmt werden kann, und bedaure den, der dazu nicht mehr fähig ist. Sie selbst, wie ich Sie kenne, würden, wenn Sie hier wären, mit mir in die Wette schwärmen.

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