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Johann Wolfgang von Goethe, Auszüge aus Die Leiden des jungen Werthers (1774)

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Paradox! sehr paradox! rief Albert aus. – Nicht so sehr als du denkst, versetzte ich. Du gibst mir zu, wir nennen das eine Krankheit zum Tode, wodurch die Natur so angegriffen wird, daß theils ihre Kräfte verzehrt, theils so außer Wirkung gesetzt werden, daß sie sich nicht wieder aufzuhelfen, durch keine glückliche Revolution, den gewöhnlichen Umlauf des Lebens wieder herzustellen fähig ist.

Nun, mein Lieber, laß uns das auf den Geist anwenden. Siehe den Menschen an in seiner Eingeschränktheit, wie Eindrücke auf ihn wirken, Ideen sich bey ihm festsetzen, bis endlich eine wachsende Leidenschaft ihn aller ruhigen Sinneskraft beraubt, und ihn zu Grunde richtet.

Vergebens daß der gelassene vernünftige Mensch, den Zustand eines Unglücklichen übersieht, vergebens daß er ihm zuredet! eben so wie ein Gesunder, der am Bette des Kranken steht, ihm von seinen Kräften nicht das geringste einflößen kann.

Alberten war das zu allgemein gesprochen. Ich erinnerte ihn an ein Mädchen, das man vor weniger Zeit im Wasser todt gefunden und wiederhohlte ihm ihre Geschichte. –

Ein gutes Geschöpf das in dem engen Kreise häuslicher Beschäftigungen, wöchentlicher bestimmter Arbeit, heran gewachsen war, das weiter keine Aussicht von Vergnügen kannte, als etwa Sonntags in einem nach und nach zusammengeschafften Putz mit ihres Gleichen um die Stadt spatzieren zu gehen, vielleicht alle hohe Feste einmal zu tanzen, und übrigens mit aller Lebhaftigkeit des herzlichsten Antheils manche Stunde über den Anlaß eines Gezänkes, einer üblen Nachrede, mit einer Nachbarinn zu verplaudern – Deren feurige Natur fühlt nun endlich innigere Bedürfnisse, die durch die Schmeicheleyen der Männer vermehrt werden; ihre vorige Freuden werden ihr nach und nach unschmackhaft, bis sie endlich einen Menschen antrifft, zu dem ein unbekanntes Gefühl sie unwiderstehlich hinreißt, auf den sie nun alle ihre Hoffnungen wirft, die Welt rings um sich vergißt, nichts hört, nichts sieht, nichts fühlt als ihn, den Einzigen, sich nur sehnt nach ihm, dem Einzigen. Durch die leeren Vergnügen einer unbeständigen Eitelkeit nicht verdorben, zieht ihr Verlangen gerade nach dem Zweck, sie will die Seinige werden, sie will in ewiger Verbindung all das Glück antreffen, das ihr mangelt, die Vereinigung aller Freuden genießen, nach denen sie sich sehnte. Wiederhohltes Versprechen, das ihr die Gewißheit aller Hoffnungen versiegelt, kühne Liebkosungen die ihre Begierden vermehren, umfangen ganz ihre Seele; sie schwebt in einem dumpfen Bewußtseyn, in einem Vorgefühl aller Freuden, sie ist bis auf den höchsten Grad gespannt. Sie streckt endlich ihre Arme aus all’ ihre Wünsche zu umfassen – und ihr Geliebter verläßt sie – Erstarrt, ohne Sinne steht sie vor einem Abgrunde; alles ist Finsterniß um sie her, keine Aussicht, kein Trost, keine Ahndung! denn Der hat sie verlassen, in dem sie allein ihr Daseyn fühlte. Sie sieht nicht die weite Welt die vor ihr liegt, nicht die vielen die ihr den Verlust ersetzen könnten, sie fühlt sich allein, verlassen von der Welt – und blind, in die Enge gepreßt von der entsetzlichen Noth ihres Herzens, stürzt sie sich hinunter, um in einem rings umfangenden Tode alle ihre Qualen zu ersticken. – Sieh Albert, das ist die Geschichte so manches Menschen! und sag’, ist das nicht der Fall der Krankheit? Die Natur findet keinen Ausweg aus dem Labyrinthe der verworrenen und widersprechenden Kräfte, und der Mensch muß sterben.

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