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Johann Gottfried von Herder, Auszüge aus Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit (1784-91)

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So einfach dieses Naturgesetz ist, so würdig ist es Gottes, so zusammenstimmend und fruchtbar an Folgen für das Geschlecht der Menschen. Sollte dies sein, was es ist, und werden, was es werden könnte, so mußte es eine selbstwirksame Natur und einen Kreis freier Tätigkeit um sich her erhalten, in welchem es kein ihm unnatürliches Wunder störte. Alle tote Materie, alle Geschlechter der Lebendigen, die der Instinkt führet, sind seit der Schöpfung geblieben, was sie waren; den Menschen machte Gott zu einem Gott auf Erden, er legte das Principium eigner Wirksamkeit in ihn und setzte solches durch innere und äußere Bedürfnisse seiner Natur von Anfange an in Bewegung. Der Mensch konnte nicht leben und sich erhalten, wenn er nicht Vernunft brauchen lernte; sobald er diese brauchte, war ihm freilich die Pforte zu tausend Irrtümern und Fehlversuchen, eben aber auch und selbst durch diese Irrtümer und Fehlversuche der Weg zum bessern Gebrauch der Vernunft eröffnet. Je schneller er seine Fehler erkennen lernt, mit je rüstigerer Kraft er darauf geht, sie zu bessern, desto weiter kommt er, desto mehr bildet sich seine Humanität; und er muß sie ausbilden oder Jahrhunderte durch unter der Last eigner Schulden ächzen.

Wir sehen also auch, daß sich die Natur zur Errichtung dieses Gesetzes einen so weiten Raum erkor, als ihr der Wohnplatz unsres Geschlechts vergönnte; sie organisierte den Menschen so vielfach, als auf unserer Erde ein Menschengeschlecht sich organisieren konnte. Nahe an den Affen stellete sie den Neger hin, und von der Negervernunft an bis zum Gehirn der feinsten Menschenbildung ließ sie ihr großes Problem der Humanität von allen Völkern aller Zeiten auflösen. Das Notwendige, zu welchem der Trieb und das Bedürfnis führet, konnte beinah keine Nation der Erde verfehlen; zur feinern Ausbildung des Zustandes der Menschheit gab es auch feinere Völker sanfterer Klimate. Wie nun alles Wohlgeordnete und Schöne in der Mitte zweier Extreme liegt, so mußte auch die schönere Form der Vernunft und Humanität in diesem gemäßigtern Mittelstrich ihren Platz finden. Und sie hat ihn nach dem Naturgesetz dieser allgemeinen Konvenienz reichlich gefunden. Denn ob man gleich fast alle asiatischen Nationen von jener Trägheit nicht freisprechen kann, die bei guten Anordnungen zu frühe stehenblieb und eine ererbte Form für unableglich und heilig schätzte, so muß man sie doch entschuldigen, wenn man den ungeheuren Strich ihres festen Landes und die Zufälle bedenkt, denen sie insonderheit von dem Gebirg her ausgesetzt waren. Im Ganzen bleiben ihre ersten frühen Anstalten zur Bildung der Humanität, eine jede nach Zeit und Ort betrachtet, lobenswert, und noch weniger sind die Fortschritte zu verkennen, die die Völker an den Küsten des Mittelländischen Meeres in ihrer größern Regsamkeit gemacht haben. Sie schüttelten das Joch des Despotismus alter Regierungsformen und Traditionen ab und bewiesen damit das große, gütige Gesetz des Menschenschicksals: »daß, was ein Volk oder ein gesamtes Menschengeschlecht zu seinem eignen Besten mit Überlegung wolle und mit Kraft ausführe, das sei ihm auch von der Natur vergönnet, die weder Despoten noch Traditionen, sondern die beste Form der Humanität ihnen zum Ziel setzte.«

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