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Johann Gottfried von Herder, Auszüge aus Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit (1784-91)

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Wunderbar schön versöhnt uns der Grundsatz dieses göttlichen Naturgesetzes nicht nur mit der Gestalt unsres Geschlechts auf der weiten Erde, sondern auch mit den Veränderungen desselben durch alle Zeiten hinunter. Allenthalben ist die Menschheit das, was sie aus sich machen konnte, was sie zu werden Lust und Kraft hatte. War sie mit ihrem Zustande zufrieden oder waren in der großen Saat der Zeiten die Mittel zu ihrer Verbesserung noch nicht gereift, so blieb sie Jahrhunderte hin, was sie war, und ward nichts anders. Gebrauchte sie sich aber der Waffen, die ihr Gott zum Gebrauch gegeben hatte, ihres Verstandes, ihrer Macht und aller der Gelegenheiten, die ihr ein günstiger Wind zuführte, so stieg sie künstlich höher, so bildete sie sich tapfer aus. Tat sie es nicht, so zeigt schon diese Trägheit, daß sie ihr Unglück minder fühlte; denn jedes lebhafte Gefühl des Unrechts, mit Verstande und Macht begleitet, muß eine rettende Macht werden. Mitnichten gründete sich z. B. der lange Gehorsam unter dem Despotismus auf die Übermacht des Despoten; die gutwillige, zutrauende Schwachheit der Unterjochten, späterhin ihre duldende Trägheit war seine einzige und größeste Stütze. Denn Dulden ist freilich leichter, als mit Nachdruck bessern; daher brauchten so viele Völker des Rechts nicht, das ihnen Gott durch die Göttergabe ihrer Vernunft gegeben.

Kein Zweifel aber, daß überhaupt, was auf der Erde noch nicht geschehen ist, künftig geschehen werde; denn unverjährbar sind die Rechte der Menschheit, und die Kräfte, die Gott in sie legte, unaustilgbar. Wir erstaunen darüber, wie weit Griechen und Römer es in ihrem Kreise von Gegenständen in wenigen Jahrhunderten brachten; denn wenn auch der Zweck ihrer Wirkung nicht immer der reinste war, so beweisen sie doch, daß sie ihn zu erreichen vermochten. Ihr Vorbild glänzt in der Geschichte und muntert jeden ihresgleichen, unter gleichem und größerm Schutz des Schicksals, zu ähnlichen und bessern Bestrebungen auf. Die ganze Geschichte der Völker wird uns in diesem Betracht eine Schule des Wettlaufs zur Erreichung des schönsten Kranzes der Humanität und Menschenwürde. So viele glorreiche alte Nationen erreichten ein schlechteres Ziel; warum sollten wir nicht ein reineres, edleres erreichen? Sie waren Menschen, wie wir sind; ihr Beruf zur besten Gestalt der Humanität ist der unsrige, nach unsern Zeitumständen, nach unserm Gewissen, nach unsern Pflichten. Was jene ohne Wunder tun konnten, können und dürfen auch wir tun: die Gottheit hilft uns nur durch unsern Fleiß, durch unsern Verstand, durch unsre Kräfte. Als sie die Erde und alle vernunftlosen Geschöpfe derselben geschaffen hatte, formte sie den Menschen und sprach zu ihm: »Sei mein Bild, ein Gott auf Erden! Herrsche und walte! Was du aus deiner Natur Edles und Vortreffliches zu schaffen vermagst, bringe hervor; ich darf dir nicht durch Wunder beistehn, da ich dein menschliches Schicksal in deine menschliche Hand legte; aber alle meine heiligen, ewigen Gesetze der Natur werden dir helfen.«

Lasset uns einige dieser Naturgesetze erwägen, die auch nach den Zeugnissen der Geschichte dem Gange der Humanität in unserm Geschlecht aufgeholfen haben, und, so wahr sie Naturgesetze Gottes sind, ihm aufhelfen werden.

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