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Frau Marion Beymes Erinnerungen an Marburg und Berlin während der NS-Zeit (Rückblick, Anfang der 90er Jahre)

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Während ihr Mann zu seiner Pflicht von seinem Heim fortging, tauchten deutsche Soldaten auf vor seinem Haus, »dünn und hager«, die ihrer Pflicht nicht länger nachkommen wollten. »Die klingelten an der Tür und sagten: »[sic] Nehmt uns auf. Wir müssen irgendwie unterschlüpfen.‹ Da hat meine Mutter gesagt: ›Nein, das kann ich nicht tun.‹ Die waren sicher zum Teil sehr anständige Leute, die Schreckliches durchgemacht hatten und das eigentlich nicht wollten. Es war schon eine sehr harte Entscheidung, zu sagen ›Nein‹. Aber aus politischen Gründen mußte man das durchhalten, daß man gegen den Krieg und gegen Soldaten war, auch wenn man mit den einzelnen Mitleid hatte.

Und es kam auch ein Vetter von mir, der schwarze Fleck in der Familie. Das war ein SS-Mann. Ein ganz lieber Mensch, ein ganz treuer Verwandter, immer noch. Der sicher nie was Böses getan hat, aber sich für diesen Krieg begeistert hat. Goldenes Kreuz oder Ritterkreuz – irgendein goldenes Abzeichen hat er bekommen. Und war eben auch SS-Offizier. Der kam auf der Flucht zu uns, und als Mensch haben wir ihn furchtbar gerne gemocht. Hilfsbereit und liebevoll und anhänglich und treu, und da haben wir ihn eine gute Nacht dagehabt. Dann hat meine Mutter gesagt: ›So hart wie es ist – du mußt weiter, wir können dich hier nicht behalten.‹ Da mußte er weiter. Er war noch in Uniform.«

Ein ganz »lieber Mensch«? Ohne weitere Nachforschung konnte niemand von uns beiden wissen, wie »lieb« ihr Vetter war.

»Und dann das Ende des Krieges. Da saßen wir im Keller unseres Hauses, und da kamen zum ersten mal nicht mehr Bomben und Flieger, sondern Artilleriegeschosse. Da hörte man die Schüsse ganz nahe. Und dann hörte das plötzlich auf, das Geschieße, und dann hörte man, daß die Amerikaner einmarschierten; sie waren nicht so laut wie unsere deutschen Soldaten. Die hatten Nagelstiefel, und die Amerikaner, glaube ich, Gummisohlen. Aber wenn dann Hunderte zugleich marschierten, weiß man das doch. Und denen wären wir am liebsten mit Blumen oder so was entgegengerannt, aber irgendwie waren wir doch zu verängstigt; wir haben es nicht getan. Ob man der Sache nicht ganz traute, oder ob da noch geschossen wird . . .«

Bei der Frage nach ihrem ersten Eindruck von den amerikanischen Soldaten seufzte Frau Beyme. »Die sahen sehr gesund aus. Gut genährt und gesund und rotbackig. Gut gekleidet, die Uniformen alle noch heil und neu. Die sahen für unsere Begriffe phantastisch aus. Ach, wie Halbgötter kamen die uns vor.

Wie wahnsinnig haben wir uns gefreut, als die Amerikaner kamen. Da haben sich nicht alle gefreut, aber wir. Es gab nachher eine große Enttäuschung, wie die Amerikaner uns behandelt haben und absolut nicht wissen wollten, ob man dafür oder dagegen war. Das war für uns eine ziemliche Enttäuschung. Es hat unsere Familie nachher sehr hart getroffen, was die Amerikaner hier davon gemacht haben. Viele, viele Nazis sind ohne einen Schaden davongekommen, aber uns haben sie aus dem Haus geworfen.«

Frau Beyme mußte mit ihren Kindern und ihrer Mutter zwischen 1945 und 1947 einundzwangzigmal umziehen.

Die amerkanischen Truppen warfen nicht nur ihre Familie aus dem Haus, sondern auch ihre Habe, erzählte sie. Nicht nur die antiken Bierkrüge, sondern auch das Familienporzellen [sic] flog auf den Gehweg und ging zu Bruch.

Sie waren der Feind, sagte ich.

»Ja. Sie haben alles kaputtgemacht und aus dem Haus rausgeholt. Wir fanden nachher nur Trümmerhaufen. Es war nicht mehr viel übrig.«

Doch für Fray Beyme gab es unter den Amerikanern zwei deutlich verschiedene Gruppen, die Kampftruppen und die Besatzer. »Die in den ersten Tagen kamen, die kamen von drüben, von den USA, und die hatten gar nichts mitgemacht. Und von diesen ganz jungen Soldaten wollten viele etwas erleben, so ein bißchen Krieg noch nacherleben, nicht? Ein bißchen Abenteuer. Man kann das verstehen, aber wenn man es mitmacht, ist es nicht mehr so schön. Die haben so irgendeinen alten Herrn, der auf der Straße ging, gepackt oder über den Gartenzaun geschmissen und solche Sachen.

Wir hatten Originale an den Wänden hängen, Aquarelle, die nicht gerahmt waren, da haben sie überall draufgeschrieben. Wir hatten im Keller Flaschen mit Apfelsaft, und wie wir dann später Flaschen raufholen wollten, als die Amerikaner abgezogen waren, da hatten sie die ausgetrunken und hatten Urin reingemacht. Oder in unseren Kochtöpfen war Klopapier, gebrauchtes Klopapier. Und so, so dumme Sachen.«

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