Caspar David Friedrich, Der Wanderer über dem Nebelmeer (um 1818)
Wohl kaum ein anderes Bild hat in der Geschichte der Kunst mehr Buchumschläge über die Geschichte, Philosophie und Literatur der Moderne geziert als dieses. Ähnlich wie Eugène Delacroix‘ Gemälde Die Freiheit führt das Volk (28. Juli 1830), ist Caspar David Friedrichs (1774-1840) Wanderer über dem Nebelmeer zum Repräsentanten des Empfindens eines gesamten Zeitalters geworden. Dieser Wanderer ist die Verkörperung des Kant’schen Subjekts, durch dessen Wahrnehmung alles ästhetische Urteil entsteht. Sein Blick verleiht der Welt Bedeutung, dennoch bleibt die Welt ein undurchdringbares Geheimnis für ihn, von Nebel verhüllt. Er ist wie Schuberts Wanderer, ein Fremder in der Welt, die Ikone der modernen Entfremdung. Doch er ähnelt auch dem Reisenden in der englischen Lyrik der Romantik, der sich der erhabenen Größe der Natur bewusst ist, die sich ihm auf seinen gedankenschweren Wanderungen auftut. Friedrichs häufige Verwendung der Rückenfigur – einer im Vordergrund platzierten Figur, die ausschließlich in Rückansicht dargestellt wird – stellt einen aussagekräftigen Kommentar zur romantischen Kunst- und Naturerfahrung dar. Die Welt kann nur aus einer einzigen Perspektive erfasst, erfahren und wiedergegeben werden, in Fragmenten, niemals als vollständig und als Ganzes an sich. Der Wanderer ist, wie viele Erzähler in der romantischen Prosa, gleichzeitig ein Kanal, durch den der Leser oder Betrachter in die Darstellung einsteigt als auch ein unergründliches Anderes, ein Torhüter der Andersartigkeit dieser subjektiven Darstellung, welche niemals gänzlich mitgeteilt werden kann. Friedrichs bemerkenswertes Verständnis der Unvollständigkeit als einer zentralen Schaffenskraft in der Kunst der Romantik verleiht seinem Werk selbst im Zeitalter der Postmoderne eine Aura aktueller Bedeutung. Die Komplexität seiner künstlerischen Vision wird besonders im Kontrast zu den archaischen Tendenzen der Nazarener deutlich, welche die Unvollständigkeit des Subjekts gänzlich als Verlust empfanden, den sie vergeblich durch anachronistische Techniken und Themen zu überwinden versuchten.
© Bildarchiv Preußischer Kulturbesitz / Hamburger Kunsthalle / Elke Walford
Original: Hamburg, Hamburger Kunsthalle
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