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Emil Lehmann spricht zu den Leipziger Juden über die antisemitische Bewegung (11. April 1880)

Emil Lehmann (1829-1898) war ein Dresdner Rechtsanwalt und der erste in das Dresdner Stadtverordnetenkollegium gewählte Jude (1865). Ab 1863 war er als Rechtsanwalt tätig und richtete sein Augenmerk verstärkt auf den Kampf für jüdische Rechte. Er wurde im Februar 1869 zum Gemeindevorsteher der Dresdner jüdischen Gemeinde gewählt. Lehmann unterstützte die Akkulturation der Juden in die deutsche Gesellschaft, ohne dass diese ihren Glauben aufgeben sollten. Seine Bemühungen hatten bereits erheblich zur (formalen) Gleichstellung der Juden in Sachsen am 3. Dezember 1868 beigetragen – das heißt, vor der Verabschiedung des „Gesetzes zur Gleichberechtigung der Konfessionen“ durch den Norddeutschen Reichstag (3. Juli 1869). In der hier auszugsweise wiedergegebenen Rede kommentiert Lehmann den Berliner Antisemitismusstreit. Er verspottet die Verfechter des Antisemitismus, darunter den Komponisten Richard Wagner (1813-1883), den Hofprediger Adolf Stöcker (1835-1909) und den Berliner Historiker Heinrich von Treitschke (1834-1896), deren Namen er allerdings geflissentlich nicht erwähnt. Doch Lehmann sieht eine deutliche Gefahr in der Unterstützung, die Treitschke für seine öffentliche Erklärung erhalten hatte, dass die „Juden unser Unglück [sind].“ (November 1879) Er postuliert darüber hinaus die Absurdität der Vorstellung der Juden als „Semiten“. Die Aussichten auf eine jüdische Assimilierung seien, so erklärt er in dramatischen Worten, gefährdet durch „[d]iese neuzeitliche Vivisektion des Judenthums – dieses Hineinschneiden unsrer Gegner in unseren lebendigen Leib…“ Trotzdem erklärt er in den letzten Sätzen, dass das deutsche Judentum solche Verletzungen ertragen müsse, um seine wahre Humanität und Vaterlandsliebe zu zeigen.

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Ueber die judenfeindliche Bewegung in Deutschland.
(Referat erstattet auf dem dritten ordentlichen Gemeindetag zu Leipzig am 11. April 1880.)


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Die neuere judenfeindliche Literatur nahm ihren Ausgangspunkt vom Culturkampfe. Aus dem Kreise derer, gegen welche dieser Kampf gerichtet war, wurden mit dem von Alters her bekannten Fanatismus der Dominikaner, „der Talmudjude“ und alle jene, den Talmud und die Juden dem allgemeinen Abscheu preisgebenden Schriften herausgegeben, die in unzähligen Nachahmungen noch heute, namentlich in der Hauptstadt Schlesiens, vervielfältigt werden. Auf anderer aber wahlverwandter Seite stimmten agrarische Schriftsteller in die Hep-Hep-Rufe.

Die Dritten im Bunde waren die sogenannten Christlich-Socialen, welche agrarische Tendenzen mit socialdemokratischen Maximen zu verquicken suchten. Als vierter trat ein Pessimist auf, ein Ultra-Radicaler, der unzufrieden war mit Allem, was sich in Deutschland zugetragen, dem keine politische Partei es recht gemacht, und der nun alle Schuld für die politischen und socialen Zustände in Deutschland den Juden zur Last legte. An diesen Pamphletisten schlossen sich andere Unzufriedene mit ähnlichen Geistesprodukten an.

Zuletzt kam noch ein streng nationalliberaler Professor, um in gewählteren Ausdrücken, in maßvollerer Sprache dem deutschen Volke zu verkünden, daß die Juden ein Unglück für Deutschland seien. So ist der Kampf auf allen Linien ausgebrochen. Die äußerste Rechte, die Hofpredigerpartei, das Centrum, Nationalliberale von der strengsten Observanz, Ultra-Radikale, haben das Feldgeschrei wider die Juden erhoben. Sabuni Kidevaurim.

Nach allen drei Richtungen hin – der religiösen, der politischen, der sozialen, wird in dieser feindseligen Literatur gegen uns gewühlt; und mit den einander widersprechendsten Gründen obendrein. Die Einen versichern, daß sie es gar nicht mit der Religion und mit den Personen, nur mit dem Volksstamme zu thun haben. Die Anderen greifen die Religion, namentlich den Talmud, auch das alte Testament an. Hierin gehen sonderbarerweise die auf dem konfessionell strengsten Standpunkte Stehenden mit den konfessionslosesten Allesverneinern Hand in Hand. Eine und dieselbe Nummer eines mitteldeutschen offiziellen Blattes brachte Ende November 1879 als Leitartikel einen Stoßseufzer gegen den religiösen Liberalismus, im Feuilleton ein freudestrahlendes Referat über die Zerfleischung des alten Testaments und der alten Hebräer, die in der neuesten „Kulturgeschichte des Judenthums“ vom radikalsten, konfessionslosesten Standpunkte aus versucht wird.

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