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Heinrich von Treitschke, „Der Sozialismus und seine Gönner” (1874)

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Mag der Staat die niederen Klassen noch so reichlich ausstatten mit politischen Rechten, es bleibt doch dabei, daß sie nicht selbst regieren können. Das Wahlrecht kann man ihnen geben, die Wählbarkeit erhalten sie tatsächlich nur in seltenen Ausnahmefällen; und daran ist nichts zu beklagen, denn das Parlament soll nicht die Klasseninteressen als solche vertreten, sondern die durch die Gemeinschaft der Pflichterfüllung verbundenen Selbstverwaltungskörper, welche alle Klassen umschließen. Mag die Gesellschaft noch so menschenfreundlich für die Wohlfahrt der unteren Klassen wirken, der Handarbeiter wohnt doch besten Falls in bescheidenen Häuschen, der Grundherr im Schlosse. Durch diese Hebung der niederen Schichten der Gesellschaft erreicht man also niemals das Ziel der Ausgleichung der Begierden, die nach Aristoteles schönem Worte wichtiger ist als die Ausgleichung des Besitzes.

Ungleich sicherer ist der andere Weg, der zur Milderung der Klassengegensätze führt: Die Beseitigung der Schranken, welche den in Armut Geborenen hindern, emporzusteigen in den Kreis der Besitzenden und Gebildeten. Nach dieser Richtung können Staat und Gesellschaft nie genug tun, wenn sie den unendlichen Wert des Talents zu würdigen verstehen; hier eröffnet sich ihrer Tätigkeit ein großes, fast unabsehbares Feld. Bleibt es unmöglich, die große Mehrzahl der Menschen an allen Genüssen der Kultur teilnehmen zu lassen, so muß doch jede rüstige Kraft hoffen können, hinauszutreten aus den Reihen dieser Mehrheit. Der Staat soll nicht bloß die Arbeitskraft entfesseln und dem Armen das Recht geben, aus seiner Klasse sich zu erheben; er soll auch durch gute Volksschulen und durch einen leicht zugänglichen höheren Unterricht dafür sorgen, daß das echte Talent diese Rechte wirklich gebrauchen könne. Nur so kommt beständig frisches Blut in die höheren Klassen, nur so kann jene Ausgleichung der Begierden annähernd erreicht werden. [ . . . ] Der freie Wettbewerb aller um die Güter Gesittung, deren volles Maß immer nur von einer Minderheit erreicht werden kann – das ist es, was ich unter vernünftiger Gleichheit verstehe. [ . . . ]



Quelle: Diese Abhandlung erschien zuerst in Preußische Jahrbücher, Bd. 34 (1874) unter dem Titel: „Die soziale Frage und der preußische Staat“. Der Abdruck dieses Auszuges erfolgte nach: Heinrich von Treitschke, Zehn Jahre deutscher Kämpfe, 3. Aufl. Berlin, 1897, Bd. 2, S. 112ff.

Abgedruckt in Ernst Schraepler, Hg., Quellen zur Geschichte der sozialen Frage in Deutschland. 1871 bis zur Gegenwart, 3. verbesserte Aufl. Göttingen: Muster-Schmidt, 1996, S. 70-78.

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