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Heinrich von Treitschke, „Der Sozialismus und seine Gönner” (1874)

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Vor allem die Wahlen der Sozialdemokratie beweisen, wie zerrüttend die Lehre des Klassenhasses zu wirken beginnt. Gutmütige Gelehrte preisen als ein rühmliches Zeichen deutschen Arbeiterstolzes, daß bei uns schon mehrmals „Arbeiter“ in den Reichstag gewählt wurden, während in Frankreich erst zweimal, in England erst einmal ein solcher Erfolg gelang. Sie bemerken nicht, daß sie mit diesem Lobe gradeswegs hinsteuern zu den erleuchteten Anschauungen des Revolutionsministers Carnot, der im Frühjahr 1848 den Wählern Frankreichs erklärte: die alte Meinung, daß Besitz und Bildung den Abgeordneten wohl anstehe, sei ein reaktionärer Aberglaube. Dieser reaktionäre Aberglaube ist eben ein unveräußerlicher Grundgedanke des konstitutionellen Staats. Das normale Verhältnis bleibt immer, daß der Gewählte über dem Durchschnitt seiner Wähler steht. Wenn die sozialistischen Arbeiter heute grundsätzlich ihre Stimmen an halbgebildete Männer geben, welche den Pflichten eines Abgeordneten nicht gewachsen sind und im Parlamente die Gesinnung des Wahlkreises nicht wirksam zu vertreten vermögen, so ist dies Verhalten keinesweg ein Zeichen stolzer Standesgesinnung, sondern eine Wirkung des verbissenen Klassenhasses, der nicht glauben will, daß auch ein Nicht-Arbeiter die Interessen der Arbeiter gerecht und einsichtig wahren kann. Und am Ende läßt daß Verfahren nicht folgerecht sich durchführen. Auch eine Arbeiterpartei bedarf gebildeter Führer; fast alle gefährlichen Demagogen der Geschichte gehörten nicht zu dem „Volke“, dem sie schmeichelten, die Leiter der deutschen Sozialdemokratie sind selbst „Bourgeois". –

Genug, die Sozialdemokratie ist eine Partei der sittlichen Verwilderung, der politischen Zuchtlosigkeit und sozialen Unfriedens. [ . . . ]

Und nun frage ich: ist dies eine Partei, mit der wir verhandeln können? Sie hat uns durch ihre schonungslose Kritik auf manche Gebrechen unseres sozialen Lebens aufmerksam gemacht und durch ihre wüste Sinnlichkeit uns gezeigt, wohin der in der Volkswirtschaft früherhin vorherrschende Eudämonismus am letzten Ende führt. Außer diesen beiden negativen, unfreiwilligen Verdiensten gebührt ihr keines. Sie will die Herrschaft der Faust, wir die Herrschaft der Bildung. Wir stehen ihr in jedem Sinne ferner als den Ultramontanen. Wie wir zu diesen sagen: erst erkennet die Souveränität des Staates an, dann können wir über einzelne Streitfragen uns verständigen – ebenso, und noch entschiedener, müssen wir den Sozialdemokraten zurufen: erst unterwerft Euch der überlieferten Ordnung der Gesellschaft. Diese Forderung sagt freilich: erst werdet das Gegenteil dessen war ihr heute noch seid! Bedingte Anerkennung richtet gegen den Fanatismus nichts aus, sie leitet ihm nur reines Wasser auf seine schmutzigen Mühlräder. [ . . . ]

Wir sind noch nicht gefühllos gegen die Leiden des Volkes, wenn wir verschmähen, mit den prahlerischen Führern einer rohen Pöbelbewegung sanfte Liebesblicke auszutauschen. Auch scheint es nicht nötig, bei der Betrachtung sozialer Fragen beständig zu reden, als ob wir im Fieber lägen, als ob die Emanzipation des vierten Standes die „Frage“ des Jahrhunderts sei. Diese Emanzipation steht nicht bevor, sie ist geschehen und bedarf nur der Sicherung. Der deutsche Staat wird seine sozialen Aufgaben dann am sichersten lösen, wenn er so ruhig und anspruchslos vorgeht, wie einst bei den Gesetzten Steins und Hardenbergs, bei der Stiftung des Zollvereins, bei allen befreienden Taten der preußischen Geschichte. [ . . . ]

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