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Heinrich von Treitschke, „Der Sozialismus und seine Gönner” (1874)

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daß die Sozialdemokratie in jedem Zuchthause eine lange Schar gläubiger Bekenner zählt? Trägt eine alltäglich an die Faust appellierende Partei gar keine Mitschuld an der furchtbar überhandnehmenden Roheit der Masse, an jenen feigen Messertotschlägen, die in den Fabrikbezirken des Niederrheins schon so alltäglich geworden sind, daß man kaum noch darauf hinhört? Recht eigentlich die Grundsteine aller Gemeinschaft werden durch die Sozialdemokratie gefährdet, jene einfachen Begriffe von Zucht und Scham, worüber unter gesitteten Menschen gar nicht gestritten werden soll. Die Lehren von dem Unrecht der Gesellschaft zerstören das feste Ehrgefühl des Arbeiters, also daß Wortbruch, schlechte und unehrliche Arbeit kaum noch für eine Schande gelten, und erwecken dafür eine krankhaft mißtrauische Empfindlichkeit wider gerechten Tadel. [ . . . ]

Eine so grobsinnliche Richtung kennt kein Vaterland, kennt nicht die Ehrfurcht vor der Persönlichkeit des nationalen Staates. Die Idee des Volkstums, die bewegende Kraft der Geschichte unseres Jahrhunderts, bleibt dem Sozialismus unfaßbar. [ . . . ] Überall geht der Sozialismus Hand in Hand mit dem vaterlandslosen Weltbürgertum und der Schlaffheit der Staatsgesinnung. Die Schweiz ist von der sozialistischen Bewegung fast ganz verschont geblieben, nicht allein weil sie der großen städtischen Mittelpunkte entbehrt, sondern auch weil eine starke eidgenössische Vaterlandsliebe dort in den Massen des Volkes lebt.

Die gelehrten Freunde des Sozialismus verweisen gern auf die englischen Chartisten, welche auch mit weltbürgerlichen Träumen begannen und doch endlich dem Vaterlande sich zu beugen lernten. Man übersieht dabei nur, daß das englische Inselvolk in seiner uralten Staatseinheit, seinem schroffen Nationalstolze Kräfte des Widerstandes besaß, welche unserem unfertigen, allen Einflüssen des Auslandes geöffneten Reiche fehlen. Man übersieht desgleichen, daß der Chartismus von Haus aus englisch war, während die deutsche Sozialdemokratie durch eine Rotte heimatloser Verschwörung vom Auslande her geleitet wird. Hat sich etwa die Sozialdemokratie in dem Jahrzehnt ihres Bestehens dem Gedanken des nationalen Staates irgendwie genähert? Nein, sie ist ihm von Jahr zu Jahr feindseliger entgegengetreten. [ . . . ]

So entfremdet der Sozialismus seine Genossen dem Staate, dem Vaterlande, und statt dieser Gemeinschaft der Liebe und Ehrfurcht, die er zerstört, bietet er ihnen die Gemeinschaft des Klassenhasses. Die Natur des modernen Staates drängt zur Ausgleichung der Standesunterschiede. In allen Schichten der Gesellschaft gilt heute das Standesgefühl nur noch wenig neben dem Bewußtsein des Staatsbürgertums, der Vaterlandsliebe. Allein in den niedersten Klassen bemüht sich eine gewaltsame Agitation einen prahlerischen Standesstolz großzuziehen. Und durch welche Mittel! So hündisch ward noch nie ein Perserfürst umschmeichelt wie „das eigentliche Volk“ der Sozialdemokratie. Alle die verächtlichen Künste des französischen Radikalismus der vierziger Jahre werden aufgeboten, um in der Masse einen bodenlosen Dünkel zu erwecken. [ . . . ]

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