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Heinrich von Treitschke, „Der Sozialismus und seine Gönner” (1874)

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der notwendigen aristokratischen Gliederung der Gesellschaft beweist dem unzufriedenen kleinen Manne sonnenklar die soziale Fäulnis der Gegenwart, macht ihn zum gläubigen Hörer der Demagogen. Das allgemeine Stimmrecht ist in diesem Staate der edlen Bildung die organisierte Zuchtlosigkeit, die anerkannte Überhebung des souveränen Unverstandes, die Überhebung des Soldaten gegen den Offizier, des Gesellen gegen den Meister, des Arbeiters gegen den Unternehmer. Aber diese verheerenden Wirkungen sind schon im Übermaß eingetreten und nicht mehr zu beseitigen; die Wiederaufhebung des einmal gewährten Rechts würde den längst erwachten Übermut der Unbildung nur noch heftiger reizen. So bleibt uns nur übrig, mindestens den Unterbau unseres monarchischen Staates, die Verwaltung der Kreise und Gemeinden, vor dem Eindringen republikanischer Grundsätze zu behüten und – zu protestieren wider die Behauptung, daß die Belohnung der Unbildung ein Ergebnis erleuchteter Sozialpolitik sei. [ . . . ]

[ . . . ] Die deutsche Sozialdemokratie ist wirklich „so schwarz“, wie sie von der Mehrzahl der gebildeten Blätter geschildert wird. Sie verdient Beachtung als ein Symptom ernster sozialer Mißstände, aber sie bietet uns keinen einzigen lebensfähigen Gedanken, mit dem sich verhandeln, der sich aufnehmen ließe in die Ordnung unserer Gesellschaft. Neid und Gier sind die beiden mächtigsten Hebel, welche sie einsetzt, um die alte Welt aus den Angeln zu heben; sie lebt von der Zerstörung jeden Ideales. Wenn die Gönner des Sozialismus als ein schönes Zeichen preisen, daß die Partei neben frechen Wühlern, feilen Demagogen und dem langen Trosse der Gedankenlosen unleugbar auch viele ehrlich uneigennützige Apostel, ja sogar einige schwärmerische Poeten in ihren Reihen zählt: so beweist dies Lob nur von neuem, wie tief die Gegenwart sich verstrickt hat in den Banden ihrer sinnlichen Weltanschauung. Fühlt man denn gar nicht mehr, wie unnatürlich es ist, daß eine Lehre, die alle Ideen leugnet, einem ehrlichen Manne die ganze Persönlichkeit zu erfüllen, ihn aufrichtig zu begeistern vermag? wie schwer die Wurzeln jedes Pflichtgefühl geschädigt sein müssen, wenn ein Idealismus des Neides, eine Begeisterung der Begierde unter uns möglich wurde? [ . . . ]

[ . . . ] Die gelehrten Freunde des Sozialismus pflegen begütigend einzuwenden, der sozialdemokratische Arbeiter lerne doch mindestens nachzudenken. Sie bezeugen damit nur, daß sie selber unwissentlich angesteckt sind von der sinnlichen Sittenlehre des Sozialismus, der in der Verstandesbildung, der sogenannten Aufklärung die Wurzeln der Tugend sucht. Wenn der unzufriedene kleine Mann, der in den neuen Formen der Volkswirtschaft sich noch nicht zurecht findet, Tag für Tag verkünden hört, die gesamte Ordnung der Gesellschaft beruhe auf Unrecht, die Gewalt müsse zerstören, was die Gewalt geschaffen; wenn zudem die Prediger dieser Lehre auf die Geschichtskonstruktionen gemäßigt liberaler Professoren sich berufen: – so mag der Arbeiter bei solchem Unterrichte immerhin einige Kenntnisse ansammeln. Aber sollte nicht auch das Tier, das in jedem Menschenherzen schlägt, aus diesen verlockenden Lehren reichen Nahrungsstoff saugen? Ist es ein Zufall,

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