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Bismarcks Reichstagsrede zum Gesetz über die Arbeiterunfallversicherung (15. März 1884)

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Meiner Erfahrung nach versteht jeder unter „Freiheit“ nur die Freiheit für sich selbst und nicht die für andere, sowie die Verpflichtung der anderen, sich jeder Beschränkung der Freiheit des Empfindenden absolut zu enthalten. Kurz, sie verstehen unter „Freiheit“ eigentlich „Herrschaft“; unter „Freiheit der Rede“ verstehen sie „Herrschaft der Redner“, unter „Freiheit der Presse“ verstehen sie den vorherrschenden und vorwiegenden Einfluß der Redaktionen und der Zeitungen. Ja selbst, meine Herren – ich spreche dabei nicht konfessionell – in allen Konfessionen findet es sehr häufig statt, daß unter „Freiheit der Kirche“ die Herrschaft der Priester verstanden wird – ich [ . . . ] – von der menschlichen Schwäche will ich nicht reden, sondern von der menschlichen Gewohnheit, die eben die Bedeutung der eigenen Person, die Herrschaft der einzelnen Person und ihren Einfluß über die Allgemeinheit stellt unter dem Vorwande, daß die Freiheit es fordere. Das ist ja in unserer deutschen Geschichte markanter ausgeführt, als in irgend einer anderen. Wie scharf ist nicht in den Jahrhunderten des Verfalls des deutschen Reichs immer die germanische Freiheit akzentuirt worden. Was war denn darunter zu verstehen? Die Freiheit der Fürsten vom Kaiser und die Herrschaft des Adels über die Leibeigenen! Sie wollten ihrerseits frei sein; das heißt, „frei sein“ war bei ihnen und auch bei anderen mit dem Begriff „herrschen“ identisch, sie fühlten sich nicht frei, wenn sie nicht herrschten. Deshalb hat mich dieses Wort überall, wo ich „frei“ vor einem anderen Adjektiv lese, argwöhnisch gemacht.

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Der Herr Abgeordnete spricht nachher sein Bedauern aus über die „sozialistische Schrulle“. – Es ist doch eine harte Aeußerung, wenn man die sorgfältigen, drei Jahre lang erwogenen Entschließungen der verbündeten Regierungen in Deutschland, die sie Ihnen nochmals, zum dritten Male, vorlegen in der Hoffnung, endlich Ihre Zufriedenheit zu erlangen, mit dem Wort „sozialistische Schrulle“ bezeichnet; eine sozialistische Schrulle ist vielleicht die ganze Staatseinrichtung, und wenn jeder auf eigene Hand leben könnte, so wären vielleicht Alle sehr freier, aber auch sehr viel weniger geschützt und gedeckt. Wenn der Herr Abgeordnete die Vorlage eine sozialistische Schrulle nennt, so sage ich einfach, es ist nicht wahr, und meine Behauptung hat so viel Recht wie die seinige.

Er braucht ferner den Ausdruck, daß die Alters- und Invalidenversorgung „chimärische Pläne wären“. [ . . . ] Chimärisch ist nichts an unserer Vorlage; unsere Vorlagen sind vollständig natürlich, sie sind der Ausdruck eines vorhandenen Bedürfnisses. [ . . . ] Aber eine Chimäre ist die Erfüllung einer Staatspflicht niemals, und als solche erkenne ich sie an, als eine Gesetzgebungspflicht. Es ist in der That kein erfreuliches Gewerbe, sich einem Kunden gegenüber, wie der Abgeordnete Bamberger ist, diesen staatlichen Schusterdiensten zu widmen, wenn man uns mit Hohn, mit Undank bei wirklichen Anstrengungen behandelt, wenn man eine Vorlage, die ausgearbeitet ist, um es Ihnen recht zu machen, als „Schrulle“ und „Chimäre“ bezeichnet. Ich möchte überhaupt empfehlen, daß wir in den Ausdrücken, mit denen wir gegenseitig unsere Bestrebungen charakterisiren, etwas milder wären.

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