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Bismarcks Reichstagsrede zum Gesetz über die Arbeiterunfallversicherung (15. März 1884)

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Sie sehen auch, daß dort die sozialen Zustände seit Jahren, seit der Regierung der Julimonarchie, nicht vollständig haben zur Ruhe kommen können, und ich glaube, daß Frankreich nicht auf die Dauer umhin können wird, etwas mehr Staatssozialismus zu treiben, als es bisher getrieben hat. War nicht z. B. auch die Stein-Hardenbergsche Gesetzgebung gloriosen Angedenkens, an deren staatsrechtlicher Berechtigung, an deren Zweckmäßigkeit heutzutage niemand mehr zweifeln wird, staatssozialistisch? Gibt es einen stärkeren Staatssozialismus, als wenn das Gesetz erklärt: ich nehme dem Grundbesitzer einen bestimmten Theil des Grundbesitzes weg und gebe denselben an den Pächter, den er bisher darauf gehabt hat [ . . . ]. Wer den Staatssozialismus als solchen vollständig verwift, muß auch die Stein-Hardenbergsche Gesetzgebung verwerfen, der muß überhaupt dem Staate das Recht absprechen, da, wo sich Gesetz und Recht zu einer Kette und zu einem Zwang, der unsere freie Athmung hindert, verbinden, mit dem Messer des Operateurs einzuschneiden und neue und gesunde Zustände herzustellen. [ . . . ]

Ich kann überhaupt zu den Aeußerungen des Herrn Abgeordneten Bamberger übergehen, weil derselbe in den seinigen die Vorredner einigermaßen resümirt und so als Leitfaden dienen kann. Der Herr Abgeordnete hat im Eingang seiner Rede erwähnt, daß „gestern – also vorgestern – als Vorspiel der Tagesordnung wieder einmal das Verderbliche und Verwerfliche jeder Opposition auseinandergesetzt worden“ ist. Meine Herren, das ist doch nicht gerecht, meine Stellungnahme zu der Sache so zu charakterisiren, als ob ich jede Opposition als verwerflich behandelt hätte. Ich habe es nur abgelehnt, meinerseits mitzuwirken zu den Zwecken der Opposition; meine ganze Rede von damals resümirt sich in dem Satze: ich will mich nicht vorspannen lassen vor den Triumphwagen der Opposition.

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Ein Hauptgrund der Erfolge, die die Führer der eigentlichen Sozialdemokratie mit ihren bisher noch nirgends klar hingestellten Zukunftszielen gehabt haben, liegt meines Erachtens darin, daß der Staat nicht Staatssozialismus genug treibt; er läßt ein Vakuum an einer Stelle, auf der er thätig sein sollte, und dieses wird von Anderen, von Agitatoren, die dem Staat ins Handwerk pfuschen, ausgefüllt. [ . . . ] Der Herr Abgeordnete von Vollmar hat, [ . . . ] seinerseits zugegeben, daß die Ideale der Sozialdemokratie überhaupt in einem einzelnen Staate nicht verwirklicht werden könnten, sondern nur dann erreichbar wären, wenn eine allgemeine internationale Grundlage gegeben wäre. Ich glaube das auch, und deshalb halte ich sie für unmöglich, denn diese internationale Grundlage wird nie vorhanden sein; aber selbst wenn das der Fall wäre, so möchte doch die Zwischenzeit lang genug sein, um einen modus vivendi für sie zu finden, der für die Bedrückten und Nothleidenden bei uns etwas erträglicher und angenehmer ist. Mit Anweisungen, die vielleicht im nächsten Jahrhundert noch nicht fällig sind, können wir sie doch nicht trösten; wir müssen etwas geben, was von morgen oder übermorgen ab gilt.

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Der Herr Abgeordnete Bamberger hat eingewendet, daß die vorgeschlagene Organisation mit dem Worte „frei“ und mit dem Begriffe der Freiheit nicht stimmt; es wäre zu viel Zwang dabei, und das Motto des Ganzen wäre: „Bist du nicht willig, so brauch ich Gewalt!“ Meine Herren, die Freiheit ist ein vager Begriff; die Freiheit, zu verhungern, kann niemand gebrauchen. Aber hier ist die Freiheit meines Erachtens auch gar nicht beschränkt und nicht in Widerspruch mit sich selbst. Die Vorlage will eine Freiheit in der Organisation, aber die Leistung will sie obligatorisch machen.

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Das Wort: „bist du nicht willig, so brauch ich Gewalt!“ ist ja überhaupt ein unberechtigtes. Es gibt kaum ein Wort heutzutage, mit dem mehr Mißbrauch getrieben wird, als mit dem Worte „frei“.

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