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Bismarcks Reichstagsrede zum Gesetz über die Arbeiterunfallversicherung (15. März 1884)

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Das Parlament soll Uebel verhindern können; es soll den Gefahren, die bei einer monarchischen Regierung und bei jeder Regierung mit Verschwendung, mit büreaukratischer Beschränkheit und Auffassung vom grünen Tisch, mit Protektionswesen, – [ . . . ] denen soll es sein Veto entgegensetzen können. Es soll verhindern können, daß schlechte Gesetze gemacht werden, es soll verhindern können, daß das Geld des Landes verschwendet wird; aber regieren, meine Herren, kann es nicht. – Ich will darauf nicht eingehen; es wird sich noch andere Gelegenheit finden, eine Vorlesung über die fundamentalen Auffassungen in dieser Beziehung zu halten.

Ich weiß auch nicht, was man an die Stelle eines Parlaments setzen würde, um den Gefahren, mit denen eine unparlamentarische, eine Regierung ohne Oeffentlichkeit, ohne Preßfreiheit, verbunden wäre, vorzubeugen. Ich meine das vollständig ernsthaft.

[ . . . ]

Etwas anderes aber ist es, ob der Staat das Recht hat – unter „Staat“ hier immer das Reich gedacht – ob der Staat das Recht hat, die Erfüllung einer staatlichen Pflicht, nämlich der, den Arbeiter vor Unfall und vor Noth, wenn er geschädigt oder wenn er alt wird, zu schützen, dem Zufall zu überlassen, daß sich Aktiengesellschaften bilden, und daß diese von den Arbeitern und den Arbeitgebern so hohe Beiträge nehmen, wie sie nur irgend erreichen können. [ . . . ] Sobald aber der Staat überhaupt diese Sache in die Hand nimmt, – und ich glaube, es ist seine Pflicht, sie in die Hand zu nehmen, – so muß er die wohlfeilste Form erstreben und muß seinerseits keinen Vortheil davon ziehen, sondern den Vortheil der Armen und Bedürftigen in erster Linie im Auge behalten. Man könnte ja sonst die Erfüllung von bestimmten Staatspflichten, wie es also unter anderen die Armenpflege im weitesten Sinne des Wortes ist, wie es die Schulpflicht und die Landesvertheidigung sind – man könnte ja die Erfüllung aller dieser Staatspflichten mit mehr Recht Aktiengesellschaften überlassen. [ . . . ] Ebenso kann man auch weiter glauben, daß die gesammte Staatspflicht schließlich der freiwilligen Bildung von Aktiengesellschaften überlassen werden müsse. Das Ganze liegt in der Frage begründet: hat der Staat die Pflicht, für seine hilflosen Mitbürger zu sorgen, oder hat er sie nicht? Ich behaupte, er hat diese Pflicht, und zwar nicht bloß der christliche Staat, wie ich mir mit den Worten „praktisches Christenthum“ einmal anzudeuten erlaubte, sondern jeder Staat an und für sich. Diejenigen Zwecke, die der Einzelne erfüllen kann, wäre es Thorheit für eine Korporation oder gemeinsam in die Hand zu nehmen; diejenigen Zwecke, die die Gemeinde mit Gerechtigkeit und Nutzen erfüllen kann, wird man der Gemeinde überlassen. Es gibt Zwecke, die nur der Staat in seiner Gesammtheit erfüllen kann. [ . . . ] Zu diesen letzten Zwecken gehört die Landesvertheidigung, gehört das allgemeine Verkehrswesen. [ . . . ] Zu diesen gehört auch die Hilfe der Nothleidenden und die Verhinderung solcher berechtigter Klagen, wie sie das wirklich nutzbare Material zur Ausbeutung durch die Sozialdemokratie ja in der That gibt. Das ist die Staatsaufgabe, der wird sich der Staat nicht auf die Dauer entziehen können.

Wenn man mir dagegen sagt, das ist Sozialismus, so scheue ich das gar nicht. Es fragt sich, wo liegt die erlaubte Grenze des Staatssozialismus? Ohne eine solche können wir überhaupt nicht wirthschaften. Jedes Armenpflegegesetz ist Sozialismus. Es gibt ja Staaten, die sich vom Sozialismus so fern halten, daß Armengesetze überhaupt nicht bestehen; – ich erinnere Sie an Frankreich. Aus diesen französischen Zuständen erklärt sich ganz natürlich die Auffassung des ausgezeichneten Sozialpolitikers, den der Herr Abgeordnete Bamberger zitirte, Léon Say; in diesem spricht sich eben die französische Auffassung aus, daß jeder französische Staatsbürger das Recht hat, zu verhungern, und daß der Staat nicht die Verpflichtung hat, ihn an der Ausübung dieses Rechtes zu verhindern.

(Hört, hört! rechts.)

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