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Otto Glagau, Der Börsen- und Gründungsschwindel in Berlin (1876)

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Die „liberalen“ Gesetzgeber in unseren Parlamenten sind vorwiegend Manchesterleute, und sie arbeiten, in Verbindung mit der „liberalen“ Presse, hauptsächlich im Interesse des Capitals und der Börse. Die manchesterliche Gesetzgebung hat einen grossartigen Bankerott gemacht, und um denselben zu verdecken, namentlich um die Aufmerksamkeit von den furchtbaren Folgen des verbrecherischen Börsen- und Gründungsschwindels abzulenken, warf man sich mit Wuth auf den „Culturkampf“ und zittert jetzt, dass der „Culturkampf“ zu Ende gehen könnte.

Auch in der Regierung sitzen Manchesterleute, und die Regierung trägt die Mitschuld an der so unheilvollen wirthschaftlichen Gesetzgebung, die sie fast ausschliesslich den „Liberalen“ überlassen hat, denen sie nur hin und wieder schwachen Widerstand leistete. Noch nach dem „Grossen Krach“, schon mitten in der Krisis, wussten die „Liberalen“, unter Anführung der Herren Lasker und Bamberger, gegen den Willen des Finanzministers Camphausen, der sich zuerst sträubte und dessen Stellung in Frage kam – die Reichsbank durchzusetzen; diese gewaltige „Gründung“ zu Gunsten der Geld- und Börsenfürsten.

Unter den Regierungsmännern herrscht Zwiespalt und Rathlosigkeit. Minister Delbrück betonte im Reichstag ausdrücklich die Wirthschafts-Krise, die noch längere Zeit anhalten werde; Minister Camphausen wollte sie überhaupt nicht zugeben. Im Abgeordnetenhause äusserte Herr Camphausen: Ich bin der Ueberzeugung, dass die Lage unserer Arbeiter noch niemals so günstig war als sie es gegenwärtig ist. Der kranken Industrie empfahl er zur Heilung – die Herabsetzung der Arbeitslöhne. Als ob die Löhne nicht schon von selber, ununterbrochen sinken; als ob es nicht schon lange an Arbeit fehlt! Ein Beweis, wie unbekannt der Minister mit den thatsächlichen Verhältnissen ist! – Im Reichstag bemühte sich Herr Camphausen die Börse und die Gründer auf Kosten des Publikums zu entlasten: – „Das Publikum hat, verleitet durch Gewinnsucht, eine lange Zeit hindurch schwindelhaften Unternehmungen Vorschub geleistet. Die ganze Nation war von einem gewissen Schwindel mehr oder weniger erfasst.“ – „Heute überlässt sich das Publikum einem viel zu weit getriebenen Misstrauen. Heute werden die Capitalien zurückgehalten, während sich in einer Menge der solidesten Papiere die lohnendste Anlage dafür bietet.“ – In Folge dieser famosen Ministerrede versuchte die Berliner Börse Ende November eine Hausse in Scene zu setzen, die aber kläglich misslang.

Wiewol alle Zweige der Industrie, alle Geschäfte darniederliegen, Verkehr und Handel stocken, täglich neue Bankerotte ausbrechen, täglich mehr Arbeiter brotlos werden – leugnen die Manchesterleute – Herr Lasker voran – und die „liberale“ Presse doch jeden eigentlichen Nothstand; und sie bezeichnen diejenigen Blätter, welche gegen die manchesterliche Misswirthschaft auftreten und vor den Gefahren warnen, die daraus erwachsen – theils als „Scandalblätter“, theils als „Revolverpresse“.

Seit 1866 treiben wir wesentlich Social-Politik. Seit dem „Grossen Krach“ dreht sich die Weltgeschichte nicht mehr ausschliesslich um den Fürsten Bismarck. Zwar ist der Ruhm ein berauschendes Getränk, aber er macht nicht satt; Jedermann verlangt trotzdem und verlangt zuerst des Leibes Nahrung und Nothdurft. Die wirthschaftlichen „Freiheiten“ können nicht entschädigen für die wachsenden Steuern und Lasten, für die unnatürliche Theuerung der letzten Jahre, für die unhehaglichen und ungesunden Zustände, wie sie auf allen Gebieten hervortreten. Die manchesterliche Wirthschafts-Politik hat nur einer kleinen Minderheit, vornehmlich Finanzleuten und Speculanten, Vortheil gebracht; dem Volke hat sie tiefe Wunden geschlagen. Der Börsen- und Gründungsschwindel hat das Nationalvermögen um Milliarden gekürzt, allgemeine Misstimmung und Erbitterung erzeugt, und der Socialdemokratie Schaaren neuer Anhänger zugeführt.

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