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Hans Delbrück über Bismarcks Erbe (April 1890)

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Drei Momente sind es hauptsächlich gewesen, um derentwillen sich die jüngere Generation seit den 70er Jahren von der alten Fortschritts- heute deutsch-freisinnige Partei abgewandt hat: daß sie sich dem Aufbau des neuen nationalen Staatswesens widersetzte, statt an ihm mitzuhelfen; daß sie den Anforderungen der vaterländischen Wehrkraft nicht opferwillig genug entgegenkam; daß sie endlich dem neuen Ideal einer gesetzlichen Sozialreform widersprach. Diese drei Negationen haben sie in der öffentlichen Meinung mit dem Fluch beladen, keine 'nationale' Partei zu sein. Wenn die Partei nunmehr nach dem Ausweis der letzten Wahlen wieder etwas mehr Boden gewonnen hat, so hat sie das gewiß in erster Linie der Vertretung ihrer positiven Idee, des Freihandels (neben der Branntweinsteuer) zu verdanken. Im Hintergrunde liegt doch aber auch, daß jene drei Hauptvorwürfe, unter denen sie in den besseren und gebildeten Teilen der Bevölkerung zu leiden hatte, anfangen zu verblassen. Das Reich ist fertig; in der Armeefrage haben sie sich bei der letzten Entscheidung gefügt; die Februar-Erlasse haben sie mit Zustimmung aufgenommen. Es ist also natürlich, daß die öffentliche Meinung anfängt, sie mit etwas anderen Augen zu betrachten als bisher. Die Hauptschwierigkeit einer gesunden Entwicklung in dieser Richtung liegt in der Persönlichkeit des Abgeordneten Richter. Auch das Zentrum hat ja dasselbe demagogisch-negative Element in sich, das die deutsch-freisinnige Partei so abstoßend macht, aber die Disziplin der katholischen Kirche weiß jenes Element ebenso zu bändigen wie zu gebrauchen. Majunke (oder jetzt Dasbach) im Zentrum, Stöcker bei den Konservativen, Richter bei den Deutsch-Freisinnigen sind analoge Elemente; aber welche Verschiedenheit ihrer Stellung innerhalb ihrer Fraktionen! Der Staatskunst, welche ihre Scharen in der Hand hat, fällt zuletzt der Erfolg und die Macht zu. Die deutschfreisinnige Partei entbehrt nicht nur der Disziplin, sondern der Hauptvertreter der rein negativen Demagogie, des Gegenpols jeder positiven Staatskunst ist in ihr grade zugleich der Hauptführer. Im Hinblick hierauf mag wohl manchem jede Hoffnung auf Verständigung mit dieser Fraktion illusorisch erscheinen. Aber es fehlt doch auch nicht an Anzeichen, daß sich die patriotischen und würdigen Mitglieder der Partei ihrer Verantwortlichkeit bewußt sind, und wenn nicht alles trügt, werden die Sozialdemokraten bald genug dafür sorgen, dem neuen Reichskanzler die Regierung schwer, grade in Beziehung aber auf sein Verhältnis zu den anderen Parteien aber leichter zu machen.

So schauen wir, mit Schmerz und unauslöschlicher Dankbarkeit im Herzen für den scheidenden Kanzler, doch getrost in die Zukunft: voll neuer Kämpfe, neuer Arbeit, aber nicht ohne Hoffnung auf neue Siege und Erfolge. Schmählich ist jene Beschuldigung zusammengefallen, daß der Fürst Bismarck das neue Reich und seine Institutionen nur auf seine Person zurechtgezimmert und geschnitten habe, so daß einmal bei seinem Abgang die Anarchie einbrechen müsse. Nichts ist eingetroffen von jener Kassandrafrage: „Gibt es noch die Monarchie der Hohenzollern? Unsere Kinder werden die Antwort darauf zu geben haben.“ Hohl und leer zeigt sich das Schreckbild des 'Hausmeiertums', welches anfangen sollte, der Dynastie gefährlich zu werden. Tief bewegt im Gemüte, aber ohne jede politische Erschütterung, fest und unbeirrt in dem Glauben an seine Zukunft, zusammengehalten in den neuen und doch schon starken, gefestigten Institutionen scheidet das deutsche Volk von der großen Ära Bismarck, um ein neues Zeitalter zu beginnen.



Quelle: Hans Delbrück, „Politische Korrespondenz. Der Kanzlerwechsel“, in Preußische Jahrbücher, Bd. 65, April-Heft, 1890, S. 461-66.

Abgedruckt in Hans Fenske, Hg. Im Bismarckschen Reich 1871-1890. Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft, 1978, S. 466-72.

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