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IV. Staat und Gesellschaft
Druckfassung

Überblick: Das Wilhelminische Deutschland 1890-1914   |   I. Wirtschaftliche Entwicklung   |   II. Gesellschaft und Kultur   |   III. "Modernes Leben": Diagnosen, Entwürfe, Alternativen   |   IV. Staat und Gesellschaft   |   V. Politik   |   VI. Außenpolitik   |   Deutschland im Krieg 1914-1918   |   I. Die Kämpfe   |   II. Mobilisierung der Heimatfront   |   III. Entbehrungen und Unruhen an der Heimatfront   |   IV. Der Weg zum Kriegsende

Ebenso wie Künstler, Sozialphilosophen und Reformer mussten sich auch die staatlichen Vertreter mit den Herausforderungen des modernen Lebens auseinander setzen. Der „Staat“ beteiligte sich in Gestalt öffentlicher Einrichtungen auf nationaler, bundesstaatlicher, regionaler und lokaler Ebene lebhaft an den Bemühungen, die Auswirkungen des wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Wandels zu lenken, abzufedern oder einzudämmen, welche die Hochphase des industriellen Kapitalismus in Deutschland mit sich gebracht hatte. Der Staat stand dem besten öffentlichen Schulsystem der Welt vor. Er wollte gewährleisten, dass die Kinder eine Ausbildung in den Grundfertigkeiten erhielten, mit deren Hilfe sie den Anforderungen der industriellen Wirtschaft gewachsen sein würden (Dok. 1). Kinder, die eine weiterführende Schule besuchten, stammten in der Regel aus besser gestellten Familien. Im Falle der Jungen richtete sich die Ausbildung auf eine Karriere im Staatsdienst oder in einem der freien Berufe, während die Mädchen auf ihre Rolle als Ehefrauen jener Männer vorbereitet wurden, die solche Laufbahnen einschlugen (Dok. 2, 3).

Die größte Sorge des Staates bildete die industrielle Arbeiterschicht, deren Wachstum und Organisation in Gewerkschaften und politischen Parteien als Gefahr für die gesellschaftliche und politische Ordnung wahrgenommen wurde. Die Bandbreite der politischen Strategien, mit denen dieser Bedrohung begegnet werden sollte, umfasste neben Methoden der direkten Unterdrückung auch ein bemerkenswert fortschrittliches Vorsorge- und Sozialversicherungssystem. Dessen Grundlage war zwar bereits in den 1890er Jahren gelegt worden, es wurde in der wilhelminischen Ära jedoch erheblich ausgeweitet, nicht zuletzt aufgrund des Einsatzes von Politikern wie Hans Hermann von Berlepsch, dem preußischen Handels- und Industrieminister in den 1890er Jahren (Dok. 4, 5, 6). Die öffentliche Wohlfahrt bildete lediglich eine Dimension eines weit umfassenderen Phänomens, das ein sozialistischer Ökonom kurze Zeit später als „organisierten Kapitalismus“ bezeichnete – gemeint war die fortschreitende wechselseitige Durchdringung von öffentlichen und privaten Einrichtungen, wobei die staatliche Verwaltung versuchte, die wirtschaftliche Entwicklung anzukurbeln und zu regulieren, während die Unternehmen mehr und mehr in Anlehnung an bürokratische Strukturen organisiert wurden (Dok. 7, 8). In dieser Hinsicht erlangte die Ausdehnung von Sozialleistungen auf Angestellte im Jahr 1911 sowohl praktische als auch symbolische Bedeutung (Dok. 9, 10).


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