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Sozialversicherung für die untere Mittelklasse: Bericht Friedrich Sthamers über die erste Lesung des Angestellten-Versicherungsgesetzes im Bundesrat (1911)

Das Versicherungsgesetz für Angestellte schrieb ein Sozialversicherungsprogramm für eine ständig wachsende, bis dahin aber vernachlässigte Gruppe von Angestellten vor. Das Gesetz garantierte Versicherungsschutz bei Arbeitsunfähigkeit und gestand Witwen einen Pensionsanspruch zu. Den Büroangestellten wurden Sozialleistungen eingeräumt, die mit denen der Industriearbeiter vergleichbar waren.

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Berlin, 26. März 1911

Nach dreitägiger Beratung kam die erste Lesung des Gesetzentwurfes über die Angestellten-Versicherung am Sonnabend, den 25. d. Mts. zu Ende. Zu grundlegenden Veränderungen gab sie keinen Anlaß. So wenig Bayern seine Anregung auf Herabsetzung der Höchstgrenze des versicherungspflichtigen Jahresbetrages von M 5000,- auf M 3000,- und die Angliederung der neuen Versicherung an die Invalidenversicherung am 1. Verhandlungstage ernstlich verfolgt hatte, so wenig war das mit den übrigen bayerischen Anträgen auf Anlehnung der Organisation an die Versicherungsanstalten der Fall. Der Bayerische Bevollmächtigte begnügte sich damit, auf diese Anträge und Wünsche seiner Regierung hinzuweisen und begnügte sich mit der Erwiderung des Reichsamts des Innern, daß diese Anträge kaum oder überhaupt nicht durchführbar seien und sicher keine Kostenersparnis mit sich bringen würden. Auch von den anderen Regierungen wurden keinerlei Anträge auf Änderung des wesentlichen Inhaltes des Entwurfes gestellt. Von Anbeginn der Verhandlungen an war es klar, daß die meisten Regierungen sich trotz inneren Widerstrebens aus politischen Gründen mit dem Entwurfe abgefunden hatten und sich darauf beschränkten, unter Beibehaltung der Struktur des Entwurfes die notwendigsten Änderungen vorzuschlagen, die für seine Handhabung nötig erschienen.

Eine am Schlusse der ersten Lesung von Braunschweig provozierte Aussprache über die Stellung der einzelnen Regierungen zu dem Entwurfe bestätigt diese Auffassung, obschon von keiner Seite bindende Erklärungen abgegeben wurden. Nur Braunschweig zog die Konsequenzen dieser Fühlungnahme, indem es erklärte, es werde seinen Widerspruch gegen das Gesetz fallen lassen und nicht mehr gegen seine Annahme und Einbringung beim Reichstage stimmen. Für mich lag bei dieser Aussprache keine Veranlassung vor, nach der einen oder anderen Richtung Erklärungen abzugeben, da der Referent die Ausführungen Euerer Magnifizienz zu der ersten allgemeinen Besprechung des Entwurfes an der Hand seines Stenogramms rekapitulierte.

Auffallend war bei der Verhandlung, wie lau das Reichsamt des Innern seinen Entwurf vertrat. Zum Teil lag es wohl daran, daß Ministerialdirektor Caspar kein energischer Verhandlungsleiter ist, zum Teil aber auch daran, daß einzelne Partien des Entwurfes sehr flüchtig ausgearbeitet waren. Die Folge war, daß die Verhandlungen in Wirklichkeit den Charakter einer freien Aussprache gewannen und zu vielen Änderungen der Einzelbestimmungen führten. Insbesondere ließ das Reichsamt des Innern bei der Beratung über die Organe der Reichsversicherungsanstalt sich bei den Beratungen führen und nahm die Anregungen, die hierzu von bremischer und hamburgischer Seite in Anlehnung an die württembergischen Anträge gegeben wurden, fast ausnahmslos sofort an. Über die Ergebnisse der Beratungen der ersten Lesung wird eine Zusammenstellung gemacht und verteilt werden, auf die ich verweisen darf, da die Zahl der gemachten Änderungen sehr groß, zum Teil aber nur redaktioneller Natur ist.

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