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Höhere Schulen für Jungen: Jugendjahre eines Gymnasiasten in der oberschlesischen Stadt Gleiwitz am Vorabend des Ersten Weltkriegs (Rückblick)

Gottfried Berman Fischer äußert sich kritisch über seine Schulzeit an einem Kleinstadtgymnasium, wo beharrlich an die Antike angelehnte Bildungsideale verfochten wurden. Dieses humanistische Programm förderte Altgriechisch und Latein, vernachlässigte aber moderne Sprachen wie Französisch und Englisch. Nach einer erfolgreichen Gymnasiallaufbahn erhielten die Schüler das Abitur, das Voraussetzung für ein Hochschulstudium war.

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Das Gymnasium der Stadt 'humanistisch' zu nennen, mußte auf einem Mißverständnis beruhen, sofern man darunter die Erziehung zum freien, unabhängigen Denken und zu einer allgemeinen Bildung versteht. Das 'Humanistische' war mehr oder weniger der Unterricht in lateinischer und griechischer Grammatik. Von dem Geist dieser Sprachen, von der Sprache als Ausdruck einer Geisteshaltung, von ihrer Logik und ihrer poetischen Kraft und Schönheit verspürten wir keinen Hauch. So waren Ovid, Vergil, Cicero, Homer nichts als lästige Schullektüre, für den nächsten Tag mühselig mit dem Wörterbuch vorzubereitende Satzkonstruktionen, die seelenlos an uns vorüberzogen. Ganz schlimm stand es um die modernen Sprachen. Die Lehrer, die sie zu lehren hatten, waren unfähig, sie zu sprechen. Kaum daß einer der alten, verknöcherten Herren Frankreich oder England gesehen hatte, geschweige denn die französische oder englische Literatur kannte oder imstande war, uns ein Bild unserer Nachbarländer zu vermitteln. Offenbar waren für die entlegene Provinz Oberschlesien diese Lehrer-Karikaturen, die sich mit der Abwicklung des vorgeschriebenen Pensums begnügten und danach zu ihrem patriotischen Stammtisch eilten, gerade gut genug. Hätten wir, eine kleine Gruppe, uns nicht selbst in natürlichem jugendlichem Drang nach Wissen um die Erweiterung unseres Gesichtskreises gekümmert, wir wären wie die Barbaren aufgewachsen. Gewiß gab es bessere Schulen in Deutschland. Was wir vom Französischen Gymnasium in Berlin hörten, von Gymnasien in Frankfurt, Breslau und manchen anderen Städten, erregte unseren Neid und unsere Bewunderung. Aber ich fürchte, die Mehrzahl der Kleinstadtschulen, insbesondere in den Ostprovinzen, glich mehr oder weniger der unseren.

Hier blühte der Nationalismus. Das Haus Hohenzollern, Kaiser Wilhelm, die preußischen Prinzen und Generale waren die angebeteten Idealgestalten. Ihr Mangel an Geistesbildung, ihre Verachtung kultureller Werte, war fast ein Programm. [ . . . ]

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