GHDI logo

9. Schlußbemerkungen: Drei Geisteshaltungen des Zeitalters
Druckfassung

1. Die Konturen des Alltagslebens   |   2. Das Heilige Römische Reich Deutscher Nation   |   3. Macht und Herrschaft im deutschen Territorialfürstentum: Der Ständestaat   |   4. Die Gesellschaftsordnung   |   5. Das Wirtschaftsleben   |   6. Kulturelles Leben im Anschluss an den Dreißigjährigen Krieg   |   7. Die Originalität der deutschen Aufklärung   |   8. Spannungen der Spätaufklärung   |   9. Schlußbemerkungen: Drei Geisteshaltungen des Zeitalters   |   10. Kurzbibliographie zusammenfassender Werke und allgemeiner Darstellungen zur deutschen Geschichte


Die ideale Menschheit fand ihre Betrachtung in den theoretischen Entwürfen der Aufklärungskultur, die eine rationale Organisation des Staates, der Gesellschaft, Wirtschaft und in der Tat aller menschlichen Belange skizzierten. Die Erfüllung solch inspirierter Vorstellungen könnten von oben nach unten durch „aufgeklärten Despotismus“ unternommen, aber auch von unten nach oben angestrebt werden durch nationale und sozialpolitische Revolution wie in den amerikanischen Kolonien 1776 und in Frankreich 1789. Es war eine Sichtweise, die, in konservativer oder moderater Form, eine aufgeklärte menschliche Elite ins Auge fasste, welche die Angelegenheiten der bislang (oder womöglich immer) für die Selbstbestimmung ungeeigneten Massen regeln würde. Ideologisch als demokratischer Egalitarismus verbrämt vermochte sie sich das Erreichen einer vernunftmäßig informierten Stimme und einer politischen Partizipation „aller Männer“ und vielleicht sogar aller Menschen vorzustellen.

Entscheidend war ihr Streben nach „aufgeklärter Reform“ als rational-emanzipatorischer Selbstzweck und als lawinenartig anwachsendes Projekt, das jeden Winkel des menschlichen Lebens reinigen und vervollkommnen würde. Adam Smiths Rezept einer freien Marktwirtschaft als Eintrittskarte der Menschen für solche Anteile an der irdischen Glückseligkeit, die ihren Talenten und ihrer Energie entsprechen, stieß auf großes Echo im Deutschland des späten 18. Jahrhunderts, als die von Regierungen geförderten Wirtschaftsstrategien der „staatsbildenden Realisten“ ihre gestaltende Kraft und Plausibilität verloren. Vor allem nahm diese Lebensperspektive die rationale Beherrschung der Welt durch aufgeklärte Einzelpersonen an, seien sie nun aus den Eliten oder nicht. Die Vernunft würde alle abergläubischen Geheimnisse auflösen. Alle Ausdrucksformen menschlichen Lebens, einschließlich der Gefühle und ästhetischen Reaktionen, würden durch rationale Analyse Erhellung erfahren. Die Kunst, mit der richtigen Form versehen, würde den aufgeklärten Geist bereichern und erbauen. Wissenschaft und Technik würden immer mehr Lichter im wirklichen Leben einschalten.

Diese Geisteshaltung überdauerte als rationaler Liberalismus oder Progressivismus des 19. und 20. Jahrhunderts – doch nur unter der Bedingung, dass sie sich an die eine oder andere Doktrin des Kommunalismus band. Denn selbst wenn vernünftige Einzelpersonen die Hauptdarsteller im Lebensdrama sind, muss doch die Frage aufkommen, in welchem sozialen Umfeld sie sich anstrengen. Im Deutschland des 18. und frühen 19. Jahrhunderts lautete die Antwort darauf zunächst, es sei der reformierende Machtstaat, geleitet von einem aufgeklärten Genie (sei es, das des Herrschers oder das der herrschenden Bürokratie). Doch das Aufkommen des deutschen Nationalismus erhöhte die Möglichkeit, dass „das deutsche Volk“ selbst die rationale Glückseligkeit durch sein eigenes Handeln innerhalb einer selbstbestimmten deutschen Nation erreichen könnte. Dies war vor allem die Vision des liberalen Nationalismus. Später sollte der Marxismus – die Erfindung eines 1818 im Rheinland geborenen Hegelianers – das Proletariat anstelle von „Bürgernation“ einsetzen, obwohl es sich letztlich als unrealistisch erwies, vorzuschützen, „der Arbeiter habe kein Vaterland.“

Die vierte erkennbare Weltanschauung ließe sich als das „romantisch-historistische“ Temperament bezeichnen. Obwohl es vielleicht den „Aufklärungsutopismus“ respektieren mochte, konnte es dessen säkulares Bekenntnis nicht übernehmen, denn die romantische Vision wertete das Unerklärliche sowohl natürlicher als auch menschlicher Art auf, das die Vernunft der Aufklärung zu zerstreuen oder nutzbar zu machen versucht hatte. Und die historistische Vision zeigte, dass kultureller Partikularismus schwerer wog als menschliche Universalwerte, und dass alle menschlichen Dinge vergehen, einschließlich des „Zeitalters der Vernunft“ selbst. Die beste Zuflucht war deshalb die sich historisch entwickelnde nationale Kultur, aus der jeder Einzelne hervortritt.

Seite 26

erste Seite < vorherige Seite   |   nächste Seite > letzte Seite