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7. Die Originalität der deutschen Aufklärung
Druckfassung

1. Die Konturen des Alltagslebens   |   2. Das Heilige Römische Reich Deutscher Nation   |   3. Macht und Herrschaft im deutschen Territorialfürstentum: Der Ständestaat   |   4. Die Gesellschaftsordnung   |   5. Das Wirtschaftsleben   |   6. Kulturelles Leben im Anschluss an den Dreißigjährigen Krieg   |   7. Die Originalität der deutschen Aufklärung   |   8. Spannungen der Spätaufklärung   |   9. Schlußbemerkungen: Drei Geisteshaltungen des Zeitalters   |   10. Kurzbibliographie zusammenfassender Werke und allgemeiner Darstellungen zur deutschen Geschichte


Kant beabsichtigte, dass seine Philosophie als weltbürgerliche Wissenschaft und Politik der Selbstbestimmung durch eine repräsentative Regierung und Marktwirtschaft dienen sollte. Doch die Denker, die nach 1789 auf ihn folgten, neigten dazu, seine Betonung des Primats der Vernunft als Rechtfertigung zu verstehen, den Primat des Denkens selbst oder des Geistes über die materielle Welt vorzuziehen. Diese Tendenz begünstigte damit nicht die empiristische Philosophie, die Westeuropa und Nordamerika eroberte. Doch in der gewaltigen Konstruktion des Denkens und der Welt, die aus der Feder von Hegel stammte, wird die kantische Vernunft (verschmolzen mit dem metaphysischen Geist) zum Urheber der physischen Welt selbst und manifestiert sich selbst konkret in der Welt durch das historische Handeln der Menschheit – vor allem durch die Schöpfungen der Religion, Philosophie und Kunst.

Hegels Staat existierte, um die kulturellen Erfindungen der Menschheit zu schützen und zu fördern und das menschliche Gemeinwesen so zu strukturieren, dass es dem Einzelnen ermöglicht würde, durch gesellschaftliche Bindungen Identität zu finden und moralisches Selbstbewusstsein zu erreichen. Der Staat strukturiert die Nation. Obwohl die Realität so wie das Denken selbst durch die endlose Kollision und Auflösung von Widersprüchen (oder dialektischer Selbsttranszendenz) vorangetrieben wird – einem Prozess, der eine Fülle tragischer Konflikte und Zerstörung in der Geschichte hervorruft – bewahrte Hegel eine leibnizsche (oder quasichristliche) Gelassenheit gegenüber der Bedeutsamkeit der Welt, sowohl in ihrer derzeitigen Verfasstheit wie auch in ihrem weiteren Verlauf.

Einer von Hegels begrifflichen Bausteinen, der in Kants Denken eine unwesentliche Rolle gespielt hatte, war die Nation. Als das gemeinschaftliche, kulturhistorische Gegenstück zur individualistischen Voreingenommenheit des Rationalismus beschäftigte diese Idee solche Aufklärungsdenker wie Montesquieu, Voltaire und Rousseau. In Deutschland gewann Kants Freund und Zeitgenosse Johann Gottfried von Herder eine breite Leserschaft, indem er die Geschichte als ein Drama nationaler Kulturen oder Völker darlegte. Dies kontrastierte mit der Vorstellung der Geschichte, favorisiert von der westlichen Aufklärung, als Fortschritt des universellen menschlichen Geistes, der durch revolutionäre Einzeldenker von Aristoteles zu Newton geleistet wurde.

Nach Herders Auffassung ebenso wie in der anschließenden deutschen Romantik und dem historisch verfassten Nationalismus rührte die Identität von der Kultur her (oder vom eigenen Volk). Nationen seien anthropologische Gesamtheiten, die – zumindest nach Herder – einen Jahrhunderte langen Zyklus von Jugend, Reife und Alter durchliefen. Doch der Trend auf einer welthistorischen Skala gehe dahin, dass moderne Nationen sich selbst durch den „Kuss des Bewusstseins“ erweckten, den ihnen Denker und Künstler schenkten, die das Volk zu gegebener Zeit hervorbrachte. Dergestalt belebt würden die vielfältigen Völker eine politische Form annehmen, die ihrer individuellen Eigentümlichkeit angemessen sei (noch dazu – glücklicherweise – auch eine demokratische und pazifistische), und durch ihre kulturelle Originalität zur Gesamtheit der menschlichen Selbstverwirklichung beitragen. Eine solche Vision im Einklang mit vielen Ideen der Aufklärung inspirierte den frühen deutschen Nationalismus, selbst wenn die Leidenschaften (und Demütigungen) der napoleonischen Kriege viele seiner Apostel wie Fichte mit einer kriegerischen Stimmung erfüllte, die dem antiabsolutistischen und antimilitaristischen Herder fremd war.

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