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7. Die Originalität der deutschen Aufklärung
Druckfassung

1. Die Konturen des Alltagslebens   |   2. Das Heilige Römische Reich Deutscher Nation   |   3. Macht und Herrschaft im deutschen Territorialfürstentum: Der Ständestaat   |   4. Die Gesellschaftsordnung   |   5. Das Wirtschaftsleben   |   6. Kulturelles Leben im Anschluss an den Dreißigjährigen Krieg   |   7. Die Originalität der deutschen Aufklärung   |   8. Spannungen der Spätaufklärung   |   9. Schlußbemerkungen: Drei Geisteshaltungen des Zeitalters   |   10. Kurzbibliographie zusammenfassender Werke und allgemeiner Darstellungen zur deutschen Geschichte


Die Präferenz Friedrichs II. für das Französische in Schrift und Wort – er sagte einmal provokativ (und zu Unrecht), er spräche Deutsch nur mit seinem Pferd – brandmarkte ihn in den Augen der Bildungsbürger zunehmend als Mann von gestern. Sie waren es auch, die den Großteil des deutschen Lese- und Theaterpublikums ausmachten, und deren geistig abenteuerlichste Vertreter sich damit abmühten, das Gedankengut Immanuel Kants zu durchdringen.

Kant synthetisierte viele Stränge der deutschen und europäischen Aufklärung in einem Ideenkomplex, der noch heute weithin als größte philosophische Leistung seit Aristoteles betrachtet wird. In drei Büchern aus den 1770er und 1780er Jahren (Kritik der reinen Vernunft, Kritik der praktischen Vernunft und Kritik der [ästhetischen] Urteilskraft) stellte Kant das Gedankengut der Aufklärung auf ein neues Fundament. Als Reaktion auf den voranschreitenden philosophischen Skeptizismus des 18. Jahrhunderts (z.B. vertreten durch David Hume), der die inhärente Vernunft der Natur (und auch der menschlichen Freiheit) hinterfragte, argumentierte Kant in seiner selbst erklärten „kopernikanischen Wende in der Philosophie“, dass es sich nicht um die Sphäre der Dinge außerhalb des menschlichen Bewusstseins handle, die notwendigerweise und nachweisbar rational sei. Vielmehr sei es der menschliche Geist selbst, der so strukturiert sei, dass er alle Wahrnehmungen nach den Kategorien Raum, Zeit und Kausalität ordne. Der menschliche Geist spiegle nicht eine rationale Natur, sondern konstruiere sie.

Die menschliche Vernunft, so Kant, sei der Gesetzgeber der Natur. Die Natur mag inhärent rational sein. Obwohl der Verstand dies nicht mit letzter Gewissheit wissen könne, müsse er versuchen, das „Ding an sich“ außerhalb des menschlichen Bewusstseins wie beispielsweise das physische Universum so zu erfassen, als würde es tatsächlich über die ihm durch die Vernunft zugeschriebenen Merkmale verfügen. Während in Sachen Moral die Vernunft argumentiere, dass alle menschlichen Handlungen durch vorhandene Bedingungen kausal erklärbar und in diesem Sinne vorherbestimmt seien, ermögliche uns der Besitz eines uneingeschränkten moralischen Willens – eine Idee, die Kant mit dem von ihm bewunderten französischen Philosophen Jean-Jacques Rousseau teilte –, als sittliche Handlungsträger frei zu handeln, wenn wir uns bewusst dafür entscheiden. Das sittliche Gesetz sei nicht außerhalb, sondern in uns angelegt und schaffe ein Potenzial – noch bei weitem nicht voll verwirklicht – für eine ethische Selbstbestimmung jenseits göttlicher Macht. Im Hinblick auf ästhetische Belange sei es auf ähnliche Weise der Auftrag des Künstlers, sich nicht einer externen Autorität zu beugen, sondern aus dem Inneren einen unabhängigen und autonomen Schöpfungswillen zu entwickeln.

Kants politische Philosophie, deren freie Äußerung ihm die preußische Zensur nach 1789 zur Zeit der Französischen Revolution erschwerte, betonte den Primat des Staatswesens im Rahmen der Rechtsstaatlichkeit. Er bestand auf der Teilung der Exekutiv- und Legislativgewalt, ließ jedoch die parlamentarische oder repräsentative Regierungsform ein theoretisches Schattendasein fristen. Seine Geschichtsphilosophie postulierte, der fortschreitende Handel (der Bereich des kaufmännischen und gewerblichen Bürgertums) würde dahin wirken, die Staaten der Welt zu vereinigen und den Krieg so in Verruf zu bringen – und ihn wirtschaftlich derart kontraproduktiv zu machen –, dass dies schließlich zum ‚ewigen Frieden’ führen würde.

Dabei handelte es sich um eine Vision des emanzipatorischen Fortschritts in der Geschichte, die typisch für die Aufklärung war. In seinem gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Denken war Kant ein Bewunderer des Schotten Adam Smith, einer weiteren überragenden Gestalt des Zeitalters. Smith argumentierte für das Zusammenspiel von Angebot und Nachfrage in freien kapitalistischen Märkten, die möglichst unverzerrt durch staatliche Macht blieben. Insgesamt stand Kant philosophisch Pate für den deutschen Liberalismus des 19. Jahrhunderts.

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