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5. Das Wirtschaftsleben
Druckfassung

1. Die Konturen des Alltagslebens   |   2. Das Heilige Römische Reich Deutscher Nation   |   3. Macht und Herrschaft im deutschen Territorialfürstentum: Der Ständestaat   |   4. Die Gesellschaftsordnung   |   5. Das Wirtschaftsleben   |   6. Kulturelles Leben im Anschluss an den Dreißigjährigen Krieg   |   7. Die Originalität der deutschen Aufklärung   |   8. Spannungen der Spätaufklärung   |   9. Schlußbemerkungen: Drei Geisteshaltungen des Zeitalters   |   10. Kurzbibliographie zusammenfassender Werke und allgemeiner Darstellungen zur deutschen Geschichte


Lange war es unter Historikern und politischen Autoren üblich, niedrige vorindustrielle Lebensstandards zu beklagen. Dies ergab sich teils aus dem industrialisierungsfreundlichen modernen Liberalismus und teils aus dem klassenbewussten Marxismus. Diese Sichtweise spiegelt auch eine Tendenz wider, die durch städtische Proletarisierung verursachte, weit verbreitete Armut des 19. Jahrhunderts weiter zurück in die Frühneuzeit zu projizieren. Strukturelle Armut suchte tatsächlich diejenigen am unteren Ende der vorindustriellen Gesellschaftsskala heim, war jedoch keineswegs ein übliches Schicksal, selbst wenn sie in Zeiten des Krieges und der Lebensmittelknappheit in die Höhe schnellte. Nur ein geringer Prozentsatz der Bevölkerung lebte in einer Armut, die nicht durch Zugang zu Gartenflächen, Viehzucht (und sei es nur einer Kuh oder Ziege), Gelegenheitsarbeit und Unterstützung seitens der Familien oder Gemeinde gelindert wurde.

In der Frühneuzeit war die durchschnittliche Lebenserwartung innerhalb ganzer Länder gering, doch für die etwa drei Viertel der Bevölkerung, die den gefahrvollen Spießrutenlauf durch Säuglings- und Kinderkrankheiten erfolgreich bestanden, verbesserte sich die Langlebigkeit in späteren Jahren merklich. Epidemien – besonders Pocken und Atemwegserkrankungen – sowie für Frauen die Geburtsrisiken rafften viele Erwachsene dahin. Der Tod lauerte jedem auf Schritt und Tritt, doch häufig erwies er sich geduldig beim Einfordern seiner Ernte – es gab unzählige Patriarchen und Matriarchinnen.

Viele Menschen lebten in bescheidenen, aber nicht jämmerlichen Verhältnissen. Viele verfügten über Ansprüche auf kommunale oder feudalherrschaftliche Ressourcen wie Weide- und Brennholzrechte und auf Anstellungen mit unterschiedlichen Zahlungen in Naturalien (darunter Lebensmittel), welche die moderne Sozial- und Wirtschaftsgeschichte lieber übersieht als sie neben den für Arbeiter häufig bescheidenen Löhnen mühsam in Vermögen umzurechnen. Außer in Krisenjahren – welche die Durchschnittsperson vielleicht ein-, zwei- oder dreimal im Leben (oder auch gar nicht) tangierten – praktizierten Dorfbauern und städtische Handwerker all die üblichen Tätigkeiten – essen, sich kleiden, schlafen, ihre Kinder großziehen, ihre Feiertage begehen und die Lebensphasen durchlaufen – mit einem Anstand, der die Herablassung der Nachwelt nicht verdient.

Dies einzuräumen heißt nicht, feudales Wohlwollen übertrieben darzustellen, obwohl dieses sich gewiss manifestierte, wenn auch ungleichmäßig. Es erkennt unter anderem an, dass einfache Leute, selbst wenn sie es gewohnt waren, sich der Autorität zu beugen, etwas von Selbstschutz verstanden, besonders auf der Ebene der Dorfgemeinschaft oder der Zunftkörperschaft. Sie praktizierten dies durch bisweilen Generationen dauernde Rechtseinsprüche und, ohne viel Federlesens, durch Streiks, Boykotte oder rauere Formen des Ungehorsams, die, falls kollektiv ausgeführt, mit rechtlichen oder militärischen Strafmaßnahmen weit schwerer zu unterdrücken waren als individuelle Aufsässigkeit.

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