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4. Die Gesellschaftsordnung
Druckfassung

1. Die Konturen des Alltagslebens   |   2. Das Heilige Römische Reich Deutscher Nation   |   3. Macht und Herrschaft im deutschen Territorialfürstentum: Der Ständestaat   |   4. Die Gesellschaftsordnung   |   5. Das Wirtschaftsleben   |   6. Kulturelles Leben im Anschluss an den Dreißigjährigen Krieg   |   7. Die Originalität der deutschen Aufklärung   |   8. Spannungen der Spätaufklärung   |   9. Schlußbemerkungen: Drei Geisteshaltungen des Zeitalters   |   10. Kurzbibliographie zusammenfassender Werke und allgemeiner Darstellungen zur deutschen Geschichte


Der deutsche Adel umfasste sowohl reiche und stolze Großgrundbesitzer als auch hausbackene Landjunker. Die Auflösung des Heiligen Römischen Reiches nach 1803 setzte viele zuvor souveräne Herrscher winziger Fürstentümer, daneben auch die zahlreichen Reichsritter, auf das Niveau besonders privilegierter Adelsuntertanen der 36 deutschen Territorialstaaten herab, die zusammen mit drei Stadtrepubliken nach 1815 auf der europäischen Landkarte fortbestanden. Abgesehen von diesen politisch aus dem Sattel gehobenen Aristokraten besaß jedes Territorialfürstentum Jahrhunderte lang einen adligen Stand, der sich aus seinem eigenen Landadel, häufig Nachkommen der mittelalterlichen Ritter, zusammensetzte. Sie waren traditionell über verwandtschaftliche Beziehungen an einen militärischen und bürokratischen Dienstadel gebunden, dessen Reihen mit der Zeit durch die Aufnahme geadelter Beamter und anderer fürstlicher Günstlinge anschwoll.

Im Prinzip verfügten adlige Familien über Landbesitz. Die meisten Adelsgeschlechter (verbündete Familien mit einem gemeinsamen angestammten Namen) hatten einen Bestand an Schlössern und Herrensitzen, Landgütern mit Forst- und Jagdgründen sowie Einkünften aus den Feudalabgaben ihrer Pächter und untertänigen Dorfbewohner. Doch zahlreiche einzelne Adlige verbuchten keine Einnahmen aus landwirtschaftlichen Verkäufen oder Feudalrenten, sondern lebten stattdessen von Gehältern, Investitionen und – gelegentlich – fürstlichen Pfründen. In katholischen Territorien hatten unverheiratete Adlige die meisten hohen Kirchenämter inne und waren mit reichlichen Einkünften ausgestattet. In den geistlichen Fürstentümern genossen begünstigte Familien aus dem weltlichen Adel finanzielle und erbliche Protektion seitens der Kirche.

Es geziemte einem Adligen, Großhandel mit den landwirtschaftlichen Erzeugnissen seines Landguts zu treiben, darunter Bier und Spirituosen (Schnaps), die aus feudalherrschaftlichem Getreide hergestellt wurden. Womöglich verkaufte er zudem seine alkoholischen Getränke in einem Gasthaus oder einer Schenke unter seiner Oberhoheit, doch wenn er sich zum Einzelhandel oder städtischen Manufakturgewerbe herabließ, wurde er mit ziemlicher Sicherheit zur Aufgabe seines Adelstitels und der damit verbundenen Privilegien gezwungen. Diese umfassten als besonders markantes Element den Schutz vor direkter Besteuerung basierend auf der Theorie, dass Adlige dazu da waren, mit den herrschenden Fürsten die Ausübung der Regierung und der Herrschaft zu teilen. Der adlige Feudalherr übte nicht nur die lokale Gerichtsbarkeit und die polizeilichen Gewalten aus, was von ihm die Einstellung und Besoldung der sie durchsetzenden Beamten verlangte. Vor allem unterlagen er oder andere Familienangehörige, insbesondere seine Söhne, der Verpflichtung, dem Fürsten auf dem Schlachtfeld und bei Hofe zu dienen, während seine Töchter unter Umständen ebenfalls zum Dienst für ihre herrschenden Gebieterinnen an die fürstlichen Residenzen gerufen wurden. Im Laufe ihrer Lehrzeit in diesen Rollen zahlten die Adligen weitgehend für ihren eigenen Lebensunterhalt. Für Männer im Militär- oder Hofdienst begann erst die Erhebung in einen höheren Rang Besoldungsdividenden und andere Vergünstigungen abzuwerfen, die ihnen auch eine Heirat ermöglichten.

Ab dem späten 17. bis zum frühen 19. Jahrhundert schnellte, getragen vom aufsteigenden militärisch-bürokratischen „absolutistischen“ Staat, die Zahl der Dienstadligen sprunghaft in die Höhe. Obwohl Marktkräfte und staatlich finanzierte Landgewinnungsprogramme die Anzahl der großen Landgüter im Adelsbesitz erhöhten, wuchs der Landadel als Klasse doch nur sehr langsam. Wenige darunter waren wohlhabend genug, um sich mit den großen Aristokraten Englands, Frankreichs, Spaniens, Ungarns, Polens und Russlands zu messen. Einige Dutzende solcher – wie sie genannt wurden – Magnatenfamilien schmückten die Habsburgermonarchie, doch anderswo führten die meisten begüterten deutschen Adligen ein prosperierendes oder reiches, aber nicht luxuriöses Leben, privilegiert zwar, doch üblicherweise auch beruflich tätig. Viele starben auf dem Schlachtfeld oder zumindest in Uniform. Am Vorabend der Französischen Revolution 1789 war die Zahl der in beschränkten Verhältnissen lebenden Adligen – ohne Land und solide Einkünfte, hochverschuldet, manchmal auf der Flucht und auf dem Kriegsfuß mit dem Gesetz, bisweilen hinter Gittern – nicht unerheblich.

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