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3. Macht und Herrschaft im deutschen Territorialfürstentum: Der Ständestaat
Druckfassung

1. Die Konturen des Alltagslebens   |   2. Das Heilige Römische Reich Deutscher Nation   |   3. Macht und Herrschaft im deutschen Territorialfürstentum: Der Ständestaat   |   4. Die Gesellschaftsordnung   |   5. Das Wirtschaftsleben   |   6. Kulturelles Leben im Anschluss an den Dreißigjährigen Krieg   |   7. Die Originalität der deutschen Aufklärung   |   8. Spannungen der Spätaufklärung   |   9. Schlußbemerkungen: Drei Geisteshaltungen des Zeitalters   |   10. Kurzbibliographie zusammenfassender Werke und allgemeiner Darstellungen zur deutschen Geschichte


Der wohlhabendste, angesehenste und lange Zeit mächtigste Bestandteil des Reiches war der weitläufige Gebietskomplex, der die erblichen Besitzungen der österreichischen Habsburgerdynastie umfasste. Es handelte sich um Territorien, die den Habsburgern durch ihr eigenes dynastisches Recht – ihre Hausmacht – zustanden. Sie gehörten ihnen unabhängig von ihrer Stellung als deutsche Kaiser, die sie aufgrund der Wahl durch die sieben (später acht) Kurfürsten des Reiches innehatten. Letztere konnten das herrschende Haus jedoch mit einem Vertreter einer anderen Dynastie ersetzen, wenn der Thron vakant wurde. Dies geschah kurzzeitig (einmalig seit die Habsburger im 15. Jahrhundert den Kaiserthron bestiegen hatten) 1740-45, als Karl VII. vom bayerischen Herrscherhaus der Wittelsbacher die Kaiserwürde erlangte, wenn auch ohne dauernden Vorteil für sein Geschlecht.

Die deutschen Territorien der Habsburger umfassten Österreich sowie verstreute Besitzungen in Südwestdeutschland. Sie herrschten als Erbkönige im benachbarten Böhmen, einem reichen Land mit einer tschechischsprachigen Mehrheit, jedoch auch einer mächtigen deutschsprachigen Minderheit, verwurzelt in den grundbesitzenden, kirchlichen, höfisch-administrativen und städtischen Oberschichten. Ihre Macht als Könige des riesigen, stromabwärts von Österreich gelegenen Vielvölkerreiches Ungarn gewinnbringend auszuüben konnten sie sich erst erhoffen, als 1699 die Besetzung des Großteils jenes Landes durch die osmanischen Türken endete, und zwar durch den Triumph der österreichischen Armee über ihren lange und erbittert bekämpften muslimischen Feind.

Im 18. Jahrhundert erwarb Österreich die südlichen Niederlande und in Italien die Lombardei und Venetien, einschließlich Dalmatiens und der östlichen Adriaküste. Als zynischer Partner Preußens und Russlands bei den Teilungen Polens verleibte sich Österreich die große Provinz Galizien ein, die von Polen, Ukrainern und Juden bewohnt war. Österreich annektierte zudem die rumänisch-ukrainische Provinz Bukowina. Diesen Gebietszuwächsen stand der zuvor erwähnte Verlust Schlesiens gegenüber, vormals Teil der böhmischen Krone. Die habsburgische Politik holte sich bei ihren Bemühungen 1777, die südlichen Niederlande gegen Bayern zu tauschen, wo die Herrscherdynastie erloschen war, eine Abfuhr.

Österreichs Strategie für die Beherrschung seiner höchst unterschiedlichen Ländereien bestand erstens darin, die katholische Orthodoxie mithilfe der Bildungs- und Kulturpolitik der Geistlichkeit, besonders des Jesuitenordens, zu stützen oder erneut aufzuoktroyieren. Hauptziel war es, die Gesinnung der lokalen Aristokratie zu formen und so deren Loyalität zu sichern. Zweitens setzten die Habsburger auf die Mitregierung ihrer verschiedenen Länder gemeinsam mit den Provinzeliten: dem Landadel, den höheren Geistlichen und den bürgerlichen Oligarchen. Diese Herangehensweise zog die Anerkennung eines ständigen Funktionierens der Provinzparlamente oder Stände nach sich, zusammen mit deren halbautonomen Exekutivausschüssen. Drittens bauten die Habsburger auf ihre militärische Macht, die, konzentriert in einem der großen Heere Europas, in den Türkenkriegen weithin gefeierten Ruhm errungen hatte.

Vor seinem Schlachtfeldduell mit Preußen Mitte des 18. Jahrhunderts eiferte Österreich seinem protestantischen Rivalen beim Höherschrauben der ständigen Besteuerung und dem Aufbau der militärisch-bürokratischen Infrastruktur des absolutistischen Staates nicht nach. Vermeintlich konnte man ohne weiteres annehmen, dass die Bevölkerung Österreichs, um ein Mehrfaches größer als die Preußens, neben zusätzlichen Vorteilen seine militärische Vorrangstellung sichern würde. Doch die Niederlage durch Friedrich den Großen veranlasste die Habsburger Herrscher, Maria Theresia sowie ihre Söhne Joseph II. und Leopold II., eine absolutistisch angelegte bürokratische Zentralisierung, Verschärfung der Finanzpolitik, Heeresvergrößerung und ein staatlich vorangetriebenes Wirtschaftswachstum zu verfolgen. Die Logik dieser staatsfestigenden Reform erforderte schließlich die Konfiszierung bestimmter kirchlicher Einkünfte zugunsten des Staates, die Einführung religiöser Toleranz zur Förderung der Aufklärungskultur und der Verbreitung unternehmerischer Subkulturen von Protestanten und Juden, die Abschaffung der gesetzlichen Leibeigenschaft sowie die Einschränkung der Feudalrenten, die untertänige Dorfbewohner den Grundbesitzern schuldeten.

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