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1. Die Konturen des Alltagslebens
Druckfassung

1. Die Konturen des Alltagslebens   |   2. Das Heilige Römische Reich Deutscher Nation   |   3. Macht und Herrschaft im deutschen Territorialfürstentum: Der Ständestaat   |   4. Die Gesellschaftsordnung   |   5. Das Wirtschaftsleben   |   6. Kulturelles Leben im Anschluss an den Dreißigjährigen Krieg   |   7. Die Originalität der deutschen Aufklärung   |   8. Spannungen der Spätaufklärung   |   9. Schlußbemerkungen: Drei Geisteshaltungen des Zeitalters   |   10. Kurzbibliographie zusammenfassender Werke und allgemeiner Darstellungen zur deutschen Geschichte


In einer vorwiegend agrarischen Gesellschaft hing das persönliche Schicksal der Menschen von der Fülle oder Knappheit des Getreides und anderer Ernten ab. Mangel bedeutete Hunger, hohe Lebensmittelpreise und verminderte Einkäufe durch städtische Produzenten, was die landwirtschaftliche Krise in die Städte trug. Für Grundeigentümer hieß dies Pachtrückstände. Kärgliche Ernteerträge konnten die staatlichen Steuereinkünfte, die kirchlichen Zehnten und die Feudalabgaben drücken. Wiederholte Missernten, wenngleich selten in Friedenszeiten, bedeuteten Hunger und Tod für die Schwachen. In einer Welt der Dörfer und Kleinstädte, weitab der wenigen Fernhandelsrouten, kam Rettung durch landwirtschaftliche Importe zu erschwinglichen Preisen normalerweise einer illusorischen Hoffnung gleich.

Vor dem späten 18. Jahrhundert beabsichtigte – oder wagte – kaum jemand, auch nicht die gebildeten und besitzenden Klassen, ihr Denken über die Kategorien der christlichen Orthodoxie, der Volksmythologie und der Märchen der volkstümlichen Literatur hinaus schweifen zu lassen. Identitäten waren meist ausgesprochen lokal verfasst, verknüpft mit Religion, gesellschaftlicher Stellung, Beruf, biologischem Geschlecht und sozialer Geschlechtsidentität, Verwandtschaft und Altersgruppe. Dass jemand durch Sprache oder Brauchtum „deutsch“ war, brachte wenige oder gar keine Folgen mit sich, besonders angesichts ausgeprägter – Rivalitäten und gegenseitige Herabsetzungen anstachelnder – Unterschiede zwischen den Religionsbekenntnissen, regionaler Dialekte, Kleidungsgewohnheiten und gesellschaftlicher Gepflogenheiten. Politische Loyalitäten waren dynastischer und nicht ethnischer Art. Die Liebe zum Land war eine Liebe zu seiner eigenen, eng gefassten historisch-geografischen Heimat, gelegentlich verstärkt durch patriotische Begeisterung für die eigene Herrscherfamilie oder Regierungsautorität.

Gedanken zur kumulativen Beherrschung der Natur durch empiristische und experimentelle Naturwissenschaft hatten selbst die Gemüter der Gelehrten noch kaum in Verzückung versetzt, die stattdessen zu den Philosophien hinstrebten, die auf logischer Notwendigkeit gründeten. Für die meisten Menschen waren antike Sitten und Autoritäten – wie beispielsweise der unverwüstliche Aristoteles – die sicherste Richtschnur. Mysterien wurden besser von Geistlichen oder Meistern der Volksmagie ergründet. Vom Schicksal, wenngleich unergründlich, nahm man häufig an, es sei zu besänftigen. Ohne Gottes Gnade würden Leib und Seele in der Hölle verschwinden.

So stellte sich, kurz gefasst, das Leben bis weit ins 18. Jahrhundert dar. Es handelte sich um eine vielfältige deutsche Welt, doch die Ziele und Werte, die sie beherrschten, waren keineswegs bewusst national. Es war keine Besonderheit der Deutschen, dass es bei Anbruch des Zeitalters des Nationalismus nach 1789 keine einfache Antwort auf die Frage gab, die der revolutionäre Musiker Richard Wagner 1865 in seinem Aufsatz „Was ist deutsch?“ stellte. Bei Wagner, wie bei den meisten modernen Nationalisten überall in der Welt, entpuppte sich die nationale Identität als eine selbstüberhöhte Version der Nationalgeschichte, eingetaucht in universelle Bedeutung und ausgestattet mit einer heilsbringenden Sinnhaftigkeit, die in der vormodernen Welt einzig und allein der Religion vorbehalten gewesen war.

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