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Reformpolitik im Sozialismus (3. Oktober 1969)

Dieser zum 30. Jahrestag der DDR-Gründung geschriebene Bericht in der westdeutschen Wochenzeitung Die Zeit über den zweiten deutschen Staat, der für viele Westdeutsche zum Niemandsland geworden ist, zeigt ein differenziertes Bild der gesellschaftlichen Veränderungen, die durch diktatorische Gewalt und restriktive Machtpolitik geprägt sind.

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Ein deutsches Jubiläum


[ . . . ] In vielen Lebensbereichen, im Bildungs- und Sozialwesen, wie auch in der Rechtsentwicklung, zeigt sich, daß in beiden Teilen Deutschlands aus ganz praktischen Gründen gleiche oder ähnliche Reformen angestrebt und verwirklicht werden. Aber in der DDR hat man es leichter, solche Ziele zu erreichen. Dort wird beschlossen und administriert, hier wird debattiert, föderalisiert und zaghaft novelliert. Das auf demokratische Weise erzielte Ergebnis ist in jedem Falle vorzuziehen, nur läßt es häufig unverhältnismäßig lange auf sich warten.

So kommt es, daß die DDR bei der Reform des Bildungswesens, bei der Einführung neuer Lehr- und Lernmethoden, bei der Umstrukturierung der Universitäten, bei der Ermöglichung ganz neuer Bildungswege viel weiter gekommen ist als die Bundesrepublik. Es ist nicht gering zu schätzen, wenn jeder Schulabgänger heute in der DDR einen Facharbeiterbrief in der Tasche hat. Hilfsarbeiter wird es in absehbarer Zeit dort nicht mehr geben.

Und es ist auch durchaus ernstzunehmen, wenn in einem Land, dessen Bevölkerung hüben wie drüben zu großen Teilen aus Arbeitern und Bauern besteht, die Kinder dieser Bevölkerungsgruppen dort einen weit größeren Anteil der Studenten stellen als hier. Wenn mit dem Bildungssystem der DDR nicht eine nahezu hemmungslose politische Indoktrination verbunden wäre, es wäre vorbildlich zu nennen.

Ähnliches gilt für die Gleichberechtigung der Frau, die in der DDR bis zur letzten Konsequenz verwirklicht worden ist. Frauen sind an führenden Stellen in der Verwaltung, der Wissenschaft und der Wirtschaft viel häufiger zu finden als bei uns. Ihnen steht auch im fortgeschrittenen Alter noch jeder Bildungsweg offen, und sie müssen nicht, wenn sie einmal Kinder haben, infolge des Mangels an Kindergärten einen vielleicht geliebten Beruf aufgeben.

Aber Gleichberechtigung heißt auch Gleichverpflichtung. Frauen haben in der DDR wie die Männer die Pflicht zur Arbeit, und sie können deshalb nicht, wenn sie geschieden werden, lebenslange Unterhaltszahlungen des Mannes verlangen. Das ist die Kehrseite der Medaille. Auch die Vorteile, die die Frau in der bürgerlichen Gesellschaft hatte, sind dahin. Wer die Spielregeln einhält in der DDR, dem stehen viele Türen offen. Wer sich aber freimütig zu Ansichten bekennt, die von der Linie abweichen, für den gilt keine Gleichberechtigung, für den gilt keine Chancengleichheit bei der Ausbildung.

Wenn es morgens um fünf Uhr klingelt, dann ist es zwar auch in der DDR heute nicht mehr der Staatssicherheitsdienst. Aber wer wider den Stachel löckt, der verliert, wie Anton Ackermann, seine Ämter, der wird wie Robert Havemann aus der Akademie der Wissenschaften entfernt, der zieht sich, wie Wolfgang Biermann, in die innere Emigration zurück, oder der muß sich, wie Alfred Kantorowicz, als »verkommenes Subjekt« bezeichnen lassen. So also ergeht es Leuten, die ihr Leben lang Marxisten waren, aber sich den Luxus einer eigenen Meinung leisteten. [ . . . ]



Quelle: Joachim Nawrocki, „Ein deutsches Jubiläum“, Die Zeit, 3. Oktober 1969; abgedruckt in Christoph Kleßmann, Deutsche Geschichte 1955-1970. Göttingen, 1998, S. 592.

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