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Soziologische Analyse der Ausbreitung des Wohlstands (1974)

Anfang der 1970er Jahre hatte das Wirtschaftswachstum in der Bundesrepublik zu derart erheblichen Zugewinnen bei Löhnen und Sozialleistungen geführt, dass der Soziologe M. Rainer Lepsius die Entstehung einer „Wohlstandsgesellschaft“ konstatierte, welche die Arbeiterklasse mit einschloss und eine breitere Versorgung mit Konsumgütern ermöglichte.

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Sozialstruktur und soziale Schichtung in der Bundesrepublik Deutschland


Die soziale Entwicklung der Bundesrepublik ist durch Steigerung des Sozialproduktes und die damit verbundene allgemeine Erhöhung des Lebenshaltungsniveaus charakterisiert. [ . . . ]

Diese beträchtliche Steigerung des Sozialproduktes und der Einkommen hat die Lebenslage der Bevölkerung insgesamt wesentlich angehoben und eine kollektive Verbesserung der Lebensverhältnisse aller Einkommensschichten herbeigeführt, die auch zur Ausbildung subjektiver Zufriedenheit mit den eigenen wirtschaftlichen Verhältnissen bei der Masse der Bevölkerung geführt hat. Meinungsbefragungen im Jahre 1969 und 1972 weisen aus, daß rund 60 bis 70 Prozent der Befragten ihre eigene wirtschaftliche Lage als gut beurteilten und nur etwa 10 Prozent sie für schlecht hielten.

Wirtschaftswachstum, Vollbeschäftigung und Erhöhung sowie Dynamisierung der Renten bilden die Grundlage der subjektiven Wahrnehmung wirtschaftlicher Sicherung und ausreichender Güterversorgung. Mit der Ausnahme einzelner Randgruppen, insbesondere von Personen, die aus biographischen Sondersituationen aus dem sozialpolitischen Sicherungssystem herausfallen, ist Armut kein kollektives Schicksal einer sozialen Schicht mehr.

Dennoch bestehen in der Einkommensverteilung große Unterschiede. [ . . . ] Die höchsten Einkommen beziehen die Selbständigen, und unter den Durchschnittseinkommen liegen die Rentner. Die tatsächliche Lebenslage wird durch das Haushaltseinkommen bestimmt. Die in einem Haushalt zu versorgende Zahl von Personen und die in ihm zusammenfallenden Einkommen verschiedener Personen bestimmen das für den einzelnen verfügbare Einkommen und die darauf sich gründende Lebenshaltung. [ . . . ]

Eine Schichtung der Einkommensbezieher nach der Höhe der steuerpflichtigen Einkünfte ergab für das Jahr 1965, daß 50 Prozent aller Steuerpflichtigen über 20 Prozent aller Einkünfte verfügte[n]. Auf weitere 40 Prozent der Steuerpflichtigen entfielen 40 Prozent des Gesamteinkommens, 9 Prozent hatten einen Anteil von 25 Prozent des Einkommens, während 1 Prozent über die restlichen 15 Prozent verfügten. [ . . . ]

Der kollektive Einkommensanstieg hat zu einer breiten Streuung von langfristigen Konsumgütern geführt. Fernsehgeräte, Kühlschränke und Waschmaschinen sind zu ubiquitären Einrichtungsgegenständen des heutigen Haushaltes geworden; ihr Besitz differenziert nicht mehr nach sozialen Schichten. Diese Gegenstände sind nicht bloßer Ausdruck von Prestigestreben und Ergebnis von Werbesprüchen, sie repräsentieren faktische Teilhabe an Wohlstandsgütern, vor allem aber sind sie Voraussetzungen für die Teilnahme der Gesamtbevölkerung an der Massenkommunikation, für die Strukturwandlung des Einzelhandels und die Entlastung der erwerbstätigen Hausfrauen. Die weitere Verbreitung von derartigen Gütern, insbesondere von Personenkraftwagen, Telefon und Geschirrspülmaschinen ist nicht nur als Konsumverhalten zu erfassen, sondern hat seinerseits eine wichtige Funktion für die weitere Rationalisierung der Haushaltsführung, des Einzelhandels und der Dienstleistungen. Personenkraftwagen sind über die Berufskategorien noch ungleichmäßig verteilt: einen PKW besaßen 1969 etwa 50 Prozent der Arbeiterhaushalte, 60 Prozent der Angestellten- und 70 Prozent der Beamtenhaushalte, während Haushalte von Landwirten und Selbständigen zu 80 Prozent über ein Kraftfahrzeug verfügten. Noch ungleichmäßiger ist der Besitz eines Telefons verteilt: nur 12 Prozent der Arbeiterhaushalte, aber 50 Prozent der Angestellten- und Beamtenhaushalte hatten Telefonanschluß. Im Gegensatz zu anderen Ländern zählt das Telefon in Deutschland noch nicht zur Normalausstattung des Haushaltes, wobei wohl nicht nur Unterschiede in der Kaufkraft eine Rolle spielen. [ . . . ]

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