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Franz Hessel, „Ich wähle 'Käse'" (1920er Jahre)

Franz Hessel (1880-1941) arbeitete als Lektor und Übersetzer für den Rowohlt Verlag und veröffentlichte außerdem Feuilletonartikel, die unter anderem in der Zeitschrift Literarische Welt erschienen. Er verstand sich al eine Berliner Version des Pariser flâneurs, ein gebildeter Spaziergänger, dessen tägliche Erfahrung der Stadt ihm Gelegenheit zur Beobachtung des modernen urbanen Lebens gab. In diesem Text mischt er sich unter eine Gruppe Touristen und beklagt, was diesen bei der oberflächlichen Stadtrundfahrt entgehe. Zwar bekommen sie einen Eindruck der wichtigsten Sehenswürdigkeiten und damit vielleicht einen Sinn für die Stadtgeschichte, doch liegt der Schwerpunkt der Rundfahrt auf dem zeitgenössischen, kosmopolitischen Berlin, wo die Menschen sich in Gaststätten wie dem „Café Vaterland" am berühmten Potsdamer Platz treffen.

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Unter den Linden nahe der Friedrichstraße halten hüben und drüben Riesenautos, vor denen livrierte Männer mit Goldbuchstaben auf ihren Mützen stehen und zur Rundfahrt einladen; drüben heißt ein Unternehmen „Elite“, hüben „Käse“. Bequemlichkeit oder natürliches Kleinbürgertum? — Ich wähle „Käse“.

Da sitze ich nun auf Lederpolster, umgeben von echten Fremden. Die andern sehen alle so sicher aus, sie werden die Sache schon von 11 bis 1 erledigen; die Familie von Bindestrich-Amerikanern rechts von mir spricht sogar schon von der Weiterfahrt heut abend nach Dresden. Mehrsprachig fragt der Führer neu hereingelockte Gäste, ob sie Deutsch verstehen und ob sie schwerhörig sind; das ist aber keine Beleidigung, sondern betrifft nur die Platzverteilung. Vorn hat man mehr Luft, hinten versteht man besser.

Auf weißer Fahne vor mir steht in roter Schrift: Sight Seeing. Welch eindringlicher Pleonasmus! — Mit einmal erhebt sich die ganze rechte Hälfte meiner Fahrtgenossen, und ich nebst allen andern Linken werde aufgefordert, sitzen zu bleiben und mein Gesicht dem Photographen preiszugeben, der dort auf dem Fahrdamm die Kappe von der Linse lüftet und mich auf seinem Sammelbild nun endgültig zu einem Stückchen Fremdenverkehr macht.

Fern aus der Tiefe steckt mir eine eingeborene Hand farbige Ansichtskarten herauf. Wie hoch wir thronen, wir Rundfahrer, wir Fremden! Der Jüngling vor mir, der wie ein Dentist aussieht, ersteht ein ganzes Album, erst zur Erinnerung, später vermutlich fürs Wartezimmer. Er vergleicht den Alten Fritz auf Glanzpapier mit dem ehernen wirklichen, an dem wir nun langsam entlang fahren. Er sitzt recht hoch zu Roß in unvergeßlicher Haltung, die Hand unterm weiten Mantel in die Seite gestemmt mit dem Krückstock, den berühmten Dreispitz etwas schief auf dem Kopf. Er schaut weit über uns weg auf Pilaster und Fenster der Universität, einst seines Bruders Schloß.

Wohlwollend sieht er gerade nicht aus, soweit wir das von unten herauf beurteilen können.

Wir sind fast in Augenhöhe mit der gedrängten Helden- und Zeitgenossenschar seines Sockels. Die hat’s etwas eng zwischen Reliefwand und Steinabhang. Zusammengehalten wird sie von den vier Reitersleuten an den Sockelecken, die keinen mehr herauflassen würden.

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