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Richtlinien der Deutschen Zentrumspartei (1922)

Die katholische Zentrumspartei, die von Anfang Bestandteil der „Weimarer Koalition“ war, vereinte einen Querschnitt der deutschen Katholiken, die eine „nicht extreme“ politische Bewegung unterstützten. Der Katholizismus und dessen Lehren beeinflussten die Partei in hohem Maß; ihr politisches Programm und ihre Botschaft wurden durch örtliche Priester, Bischöfe und andere religiöse Autoritäten geprägt, wie in den Richtlinien von 1922 deutlich wird. Die Partei trat für die volle Gleichberechtigung der Deutschen mit der Völkergemeinschaft ein und forderte eine internationale Gesetzgebung, welches das öffentliche und private Leben der Bürger respektierte. Neben ihren außenpolitischen Zielen verfolgte die Zentrumspartei innenpolitisch das Ziel, die Gesellschaft vor moralischem Verfall durch „Schmutz und Schund“ zu bewahren. Gemäß der Partei sollten „Religion und Vaterland im Mittelpunkt von Erziehung und Bildung stehen“. Sie forderte außerdem ein nüchternes, sexuell zurückhaltendes Familienleben. Mithilfe der Religion präsentierte sich das Zentrum im Wahlkampf als „Partei aller Klassen“.

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Berlin, 16. Januar 1922

I. Auswärtige Angelegenheiten.

1. Die weltpolitische Lage Deutschlands erfordert klare Linien und Stetigkeit in der Führung der auswärtigen Politik. Die innerpolitische Gesetzgebung darf die Rücksicht auf die außenpolitischen Beziehungen niemals außer acht lassen.

2. Die volle Gleichberechtigung des deutschen Volkes mit allen Völkern der Welt und die Wiederherstellung der internationalen Rechtsgeltung im Staats- und Privatleben ist das nächste Ziel der auswärtigen Politik Deutschlands. Hieraus ergibt sich als wichtige Aufgabe die internationale Prüfung der Grundlage des Friedensvertrages von Versailles: der Schuld am Kriege.

3. Bei Ausführung der im Friedensvertrag von Versailles übernommenen Verpflichtungen ist die deutsche Leistungsfähigkeit die unverrückbare Grenze. Für alle Bestimmungen, die Deutschland wirtschaftlich erdrosseln oder politisch einem fremden Willen unterwerfen, ist unverzüglich Abänderung zu fordern.

4. Die baldige Befreiung der besetzten Gebiete ist mit allen rechtmäßigen Mitteln zu erstreben. [ . . . ]. In den besetzten Gebieten ist den deutschen Gesetzen Geltung zu verschaffen. [ . . . ] Die lebensvolle Verbindung Ostpreußens mit dem übrigen Reich ist zu erhalten.

5. Mit den Auslandsdeutschen, zumal mit den geschlossen wohnenden deutschen Minderheiten in fremden Staaten muß eine innige Geistesgemeinschaft gepflegt werden. [ . . . ]

7. Die Regelung der Kolonialfrage durch den Friedensvertrag kann nicht als endgültig angesehen werden. [ . . . ]

8. Deutschlands Stellung zum Völkerbund und zu jeder Art von Völkervereinigung ist abhängig zu machen von der gleichmäßigen Behandlung aller Staaten, unter Ausschluß jeder Vorherrschaft irgendeiner Mächtegruppe. Gleiches Recht hat auch in der Abrüstungsfrage zu gelten.

9. Deutschland muß den organischen Ausbau des Völkerrechts vertreten. [ . . . ]

II. Staatsordnung und Verwaltung.

1. Um der deutschen Politik Planmäßigkeit und Stetigkeit zu sichern, ist die Einigung einer starken Koalition von Parteien auf ein festes Arbeitsprogramm notwendig.

2. Der Staatsautorität und den Gesetzen ist durch ebenso entschlossene wie unparteiische Haltung aller verantwortlichen Stellen Geltung zu verschaffen. Umsturzbewegungen ist kraftvoll entgegenzutreten, ohne Rücksicht auf Person und Partei der Urheber. Durch den Geist und die Führung der inneren Politik muß ihnen der Boden entzogen werden. Landfremde Aufwiegler sind unnachsichtig zu entfernen.

3. Die Sicherheitsorgane, zumal die Reichswehr, müssen fest in der Hand der verfassungsmäßigen Regierung sein. [ . . . ]

4. Ein tüchtiges, berufsfreudiges und in seiner Lebenshaltung gesichertes Beamtentum bildet eine der wichtigsten Grundlagen der Staatsordnung und Staatsverwaltung. [ . . . ]

7. Grundsätzlich ist nach Erweiterung der Selbstverwaltungsbefugnisse zu streben; vor allem ist den Provinzen eine größere Selbständigkeit in Gesetzgebung und Verwaltung zu geben.

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III. Finanzwesen und Steuern.

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6. Auf den Familienstand, besonders auf die Kinderzahl, muß bei der Besteuerung Rücksicht genommen werden. Unbillige Härten sind durch entsprechende Bestimmungen zu verhüten. Ruhegehaltsempfänger und Kleinrentner bedürfen weitgehender Schonung.

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15. Die Frauenarbeit stellt einen unentbehrlichen Wert im Wirtschaftsleben dar. Die Ausgestaltung der weiblichen Erwerbstätigkeit darf sich aber nicht nach rein wirtschaftlichen Gesichtspunkten vollziehen, sondern muß der Bedeutung der Frauenkraft für die Entwicklung unserer Gesamtkultur Rechnung tragen. Die Hausfrau und Mutter ist von der außerhäuslichen Erwerbsarbeit, die sie der Erfüllung ihrer wichtigsten Pflichten entzieht, mehr und mehr zu entlasten.

16. Den Opfern des Krieges, Kriegsbeschädigten und -hinterbliebenen, gebührt in der Sozialpolitik eine bevorzugte Stelle. Die Renten sind nach den allgemeinen wirtschaftlichen Verhältnissen zu bemessen, das Rentenverfahren ist zu vereinfachen und zu beschleunigen. Den Kriegsbeschädigten muß weitgehender Anspruch auf Heilbehandlung und Erhaltung der Gesundheit zugebilligt werden. Die ihnen verbliebene Arbeitskraft ist in sorgsamer Anpassung dem Wirtschaftsleben einzugliedern.

17. Die Erwerbslosenfürsorge muß produktiv angelegt und streng auf unverschuldete Arbeitslosigkeit beschränkt werden. Die jetzige Fürsorge ist baldigst durch eine Arbeitslosenversicherung zu ersetzen.

V. Volkswohlfahrt und Kultur.

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3. Die Ansiedlung in ländlichen Gegenden ist zu begünstigen, die Landflucht einzudämmen. Zu diesem Endzweck muß das Land in der Wohlfahrts- und Kulturpflege besonders berücksichtigt werden. Zur Förderung innerer Kolonisation und Errichtung ländlicher Wohnbauten ist ein angemessener Anteil der staatlich bewilligten Überteuerungszuschläge dem flachen Lande zu überweisen.

4. Im Mittelpunkt der zielbewußten Volkswohlfahrtspflege stehen Familie und Kind. Den kinderreichen Familien gebührt weitestgehende Bevorzugung und Fürsorge. Alle gesunden Bestrebungen auf dem Gebiete des Säuglings- und Mutterschutzes, der Kinder- und Jugendfürsorge sind zu unterstützen.

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6. Jugendschutz und Jugendpflege sind im Zusammenwirken von Staat und Kirche, von Gemeinden und Vereinen weiterzuentwickeln. Die körperliche Ertüchtigung ist zu fördern. Vor allem muß die Jugend gegen sittliche Verführung und gegen Schmutz und Schund in der Öffentlichkeit durch scharfe Handhabung und durch Ergänzung der Gesetze geschützt werden.

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Quelle: Richtlinien der Deutschen Zentrumspartei (1922), in Deutsche Parteiprogramme 1861-1954, herausgegeben von Dr. Wolfgang Treue, Quellensammlung zur Kulturgeschichte, Band 3. Göttingen, Frankfurt, Berlin: Musterschmidt Wissenschaftlicher Verlag, 1955, S. 127-40.

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