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„Die Ausländischen Arbeitskräfte und Wir”, Frankfurter Allgemeine Zeitung (3. Juni 1961)

Der Autor plädiert dafür, die sich einbürgernde Bezeichnung „Gastarbeiter“ für die ausländischen Arbeitskräfte in der Bundesrepublik ernst zu nehmen und sie zuvorkommend zu behandeln. In den Herkunftsländern bestehen Bedenken hinsichtlich der neuen sozialen Prägungen der Gastarbeiter, die ihre Wiedereingliederung zu Hause erschweren könnten. Das deutsche Anwerbesystem funktioniert teilweise unzureichend, und die deutsche Bürokratie kollidiert mit der Mentalität der südeuropäischen Arbeitskräfte.

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Blenden wir kurz zurück. Im November 1955 schreibt ein angesehenes deutsches Blatt: „Ob tatsächlich in betracht kommende Italiener in größerer Zahl bereit sind, in Deutschland zu arbeiten, läßt sich zur Zeit noch keineswegs eindeutig beantworten.“ Wie berechtigt dieser Zweifel ist, zeigt das erste halbe Jahr der Laufzeit des deutsch-italienischen Arbeitskräfte-Abkommens; ganze 1800 Arbeitskräfte für die Industrie konnten auf den Weg gebracht werden. Und Anfang Juli 1956 spricht die Turiner La Stampa von einem völligen Fehlschlag der Werbeaktion. Und heute? Im Mai 1961 waren in der Bundesrepublik 440 000 ausländische Arbeitskräfte gemeldet, 200 000 aus Italien, 38 000 aus Spanien, 35 000 aus Griechenland. Insgesamt rechnet man für dieses Jahr mit rund 550 000 beschäftigten Ausländern gegenüber 350 000 im Vorjahr. Zahlenmäßig ist das Experiment der großen Süd-Nord-Wanderung über Erwarten geglückt. Das Hauptverdienst daran gebührt den Deutschen Kommissionen der Bundesanstalt für Arbeitsvermittlung in Verona, Neapel, Madrid, Athen. Sie haben unter den schwierigsten Umständen eine Aufbauarbeit geleistet, für die sie mehr Kritik als Dank geerntet haben. Eine andere Frage ist, ob das ganze System der Anwerbung noch den Gegebenheiten entspricht. Von einer eigenen Konzeption der Wirtschaft für die Anwerbung und Dauerbeschäftigung der Ausländer ist freilich bisher nichts bekannt geworden.

Kalkulationen auf schwankendem Grund

Der positive Rückblick sollte uns auch nicht allzu zukunftssicher stimmen. Wir haben uns sehr an den ständig steigenden Zustrom ausländischer Arbeitskräfte gewöhnt. Wir kalkulieren mit ihm als einem festen Faktor unserer Wirtschaft. Es gibt Großunternehmen, deren Ausbaupläne so gut wie ausschließlich auf diesem Kalkül beruhen. Ob diese Rechnung aufgeht, ist nicht sicher. Zum Teil freilich wird es auch an uns liegen, am Zielland. Sicher ist, daß sich die ausländischen Arbeitsmärkte versteifen. Teils werden sie effektiv enger; teils machen sich Widerstände geltend, wobei der offizielle Standpunkt eines Auswanderungslandes nicht immer dem realen entsprechen muß. Zunächst zu Italien: Einstmals sprach man vom Königreich beider Sizilien. Wir sollten uns gedanklich mit dem Begriff „Republik beider Italien vertraut machen. So groß ist das Gefälle zwischen dem hochindustrialisierten Norden und dem archaisch-landwirtschaftlichen Süden: Durchschnittsverdienst in der Provinz Mailand 3500 Mark pro Jahr, in der Provinz Neapel 2000 Mark, in Kalabrien nach amtlichen Angaben 600 Mark. Norditalien insonderheit das Industriedreieck Mailand—Turin—Genua hat keine qualifizierten Arbeitslosen mehr. Im Gegenteil. In Italien spielt sich ein in seiner hundertjährigen Geschichte nie dagewesener, umwälzender Vorgang ab: Die Polentoni werben um die Terroni. Die als hochnäsig verschrienen „Polentafresser“ hofieren die bisher gering geschätzten Leute aus dem Mezzogiorno, aus dem angeblich nur viel Geld schluckenden – eine Milliarde Mark pro Jahr – und nichtstuenden Süden. Dabei erleben die Polentoni die gleiche Überraschung wie wir: Die Terroni sind gar nicht so! Zu einem großen Teil sind sie geradezu erschreckend fleißige und unverbraucht anstellige Leute! (Nur am Rande bemerkt und als Beispiel für die Schwierigkeit der Verständigung: es ist hoffnungslos „Terroni“ übersetzen zu wollen, weil hier zwei Wortstämme mitschwingen: terra und terrore. Aber das Wort enthält gefährlichen Zündstoff wie etwa Boche oder seinerzeit im Elsaß „Wackes“.)

Verwundert entdeckt der Norden auch wieder, daß Neapel zur Zeit der vielverschrienen Bourbonen mehr Industrie besaß als Mailand. Sie können schon arbeiten, die Leute aus dem Mezzogiorno. Nur haben sie einen anderen Rhythmus und eine andere Einstellung zum Leben und Beruf, und da liegen Italiens Probleme. Im Zusammenhang mit diesen späten Erkenntnissen und dem eigenen Kräftebedarf streckt die norditalienische Industrie zielbewußt die Fühler nach dem Süden aus und erleichtert dort nicht nur Zweigbetriebe sondern auch bedeutende Industriezentren. In Brindisi baut der Chemie-Konzern Montecatini ein Werk mit einem Kostenaufwand von 550 Millionen Mark. Noch großzügiger ist die Planung für das Hüttenwerk bei Tarent mit 1,3 Milliarden Mark. Und umgekehrt bemüht man sich im Norden um die Berufsausbildung der bisher gerade geduldeten Leute aus dem Süden. Die Fiat-Werke etwa, die bis vor kurzem fast nur Söhne und Angehörige ihrer eigenen Werksangehörigen ausbildeten, haben Fachschulen für die eingewanderten Süditaliener eingerichtet. Damit verdichtet sich am Alpenrand ein Auffangfilter gegen die Abwanderung und schon zieht die Mailänder Wirtschaftszeitung 24 ore gegen den „schädlichen Export“ italienischer Arbeitskräfte vom Leder.

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