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„Was nicht im Baedeker steht. Kleiner Reiseführer durch die Ostzone” (1947)

Ein Journalist besuchte die notleidenden Städte und Regionen in der Ostzone und verglich die trostlose Realität, die er 1947 vorfand, mit den Eindrücken, welche die bekannten Baedeker Reiseführer der Vorkriegszeit vermittelten. Dem Journalisten zufolge, hatte sich das Leben in großen Teilen der Ostzone durch den Zustrom von Vertriebenen und Umsiedlern aus dem Osten, und durch die damit einhergehenden Spannungen zwischen Mitgliedern dieser Gruppe und der ansässigen Bevölkerung unwiderruflich verändert. Blühende und idyllische landwirtschaftliche Gebiete von einst waren überfüllt mit Bedürftigen. Auf dem Land litt eine bedrängte Landbevölkerung an Armut, Entbehrung und dem Druck, Lieferungsquoten an städtische Gegenden einzuhalten. In Städten trug die Demontage von Industrie und Infrastruktur zu einem Bild von überwältigender Trostlosigkeit bei.

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Es ist alles verändert, hier wie drüben. Das liegt zu einem großen Teil daran, daß – hier wie drüben – die Flüchtlinge ins Land gekommen sind. Nun haben sie in der Westzone die Aufnahme der Vertriebenen gestoppt; in der Ostzone aber laufen noch Tag für Tag neue Transporte ein, die alle in sogenannten Quarantänelagern münden. Entlausung, Registrierung, ärztliche Untersuchung – das beansprucht vierzehn Tage. Aber die Lager, die einem Zentralverwaltungsamt für Umsiedlung oder der sowjetischen Besatzungsmacht direkt unterstehen, sind nicht schlecht intakt. Es sind sanitäre Einrichtungen vorhanden, die es bisher verhindert haben, daß auch nur eine einzige Seuche um sich griff. Die Insassen der Quarantänelager werden relativ gut verpflegt, so gut jedenfalls, daß nicht in allen Haushaltungen der Ostzone ein so nahrhaftes Essen auf dem Mittagstisch steht. Daß dennoch viele Menschen das Lager anstatt zu Fuß in Särgen – oder dem Ersatz davon – verließen, daran trug allein der erbarmungswürdige Zustand die Schuld, in dem sich die Vertriebenen befanden, als sie hier ankamen. Es gibt auch Dauerlager der Flüchtlinge. Aber ihre Zahl – und dies vor allem klingt unbedingt positiv gegenüber den Verhältnissen im Westen – ist gering, wobei die Umsiedler es ohne Zweifel der großen Energie der Landesregierungen verdanken, daß sie in Wohnungen untergebracht wurden. Woher die Umsiedler stammen? Aus Westpreußen, Pommern, Schlesien, aus dem Wartheland, neuerdings auch aus dem russischbesetzten Teil Ostpreußens. Eines ist hüben wie drüben das gleiche Elend: Die Einheimischen sehen die Vertriebenen als Eindringlinge an, und die Umsiedler sind deshalb verbittert. Dort aber, wo Stadt, Gemeinde oder Kirche sich mit Energie einsetzen, ist auch sogleich ein Gewinn zu spüren, und die Zustände werden erträglich. Andererseits: Dort, wo noch ein Dauerlager existiert, kann man in der Ostzone schließen, daß etwas faul bei Behörde oder Gemeinde sei. Wohlverstanden: in der Ostzone. Von der Westzone ist in diesen Notizen überhaupt keine Rede. [ . . . ]

Da ist das Land Mecklenburg. Vergeßt, ihr Deutschlandreisenden aus früheren Tagen, was über Mecklenburg im Baedeker stand! Das Land hat die doppelte Bevölkerung, während die anderen Ostzonenländer durch die Umsiedler nur um ein Viertel volkreicher geworden sind. In Mecklenburg also, früher einem fetten stillen Bauernland, drängen sich die Menschen. Beispielsweise im Schloß Basthorst bei Crivitz: da wohnen 32 Familien, insgesamt rund 150 Menschen, in 32 Zimmern des Gebäudes. Aber jedes Zimmer hat einen Ofen, der den Familien selbst zu eigen gehört. Und die Siedler sagen, daß dies immerhin etwas sei. Im ganzen Kreise Parchim sind die Gutshäuser dicht belegt. Ländliches Wohnen, doch wenig Gelegenheit, Zusätzliches zu erhalten, weil das „Ablieferungssoll“ der Bauern dort drüben scharf kontrolliert wird; offenbar schärfer, als dies in den Westzonen der Fall ist. Die Lebensmittel wandern in die Städte, so daß es beispielsweise in dem Dorf Dobbertin – es gehört zu den Dörfern, die seinerzeit besonders stark ausgeplündert wurden – keine Kartoffeln gab. Leider können aber die Städte, obwohl sie das „Ablieferungssoll“ erfüllt sehen, sich gegenüber Mecklenburgs Landbevölkerung nicht entsprechend revanchieren. Keine Textilien, Neusiedler in Lumpen. Und der Pfarrer von Dobbertin läuft immer noch in seinen Kriegsgefangenenkleidern herum. Keine Schuhe: das ist besonders von Güstrow notiert, wo außerdem die Verkehrsmittel fehlen, die Schaffenden an die Arbeit zu bringen. Kirchgänger in Lumpen: so heißt es von Wismar, vom stark zerstörten Rostock heißt es, daß die Wohnverhältnisse schwierig sind; dennoch sind die Flüchtlingsdauerlager aufgelöst. Dies hat man immerhin geschafft in der stark zerstörten Stadt. [ . . . ]

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