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Die Lage der Jugendlichen in Aachen (1947)

Die harten Lebensbedingungen der Nachkriegszeit in Deutschland wirken sich besonders auf Kinder und Jugendliche negativ aus. Mangelnde Ernährung und Fürsorge, unregelmäßiger Schulbesuch, der Verlust väterlicher Autorität und ungeordnete Familienverhältnisse begünstigen Verwahrlosung, unmoralisches Verhalten und Kriminalität, wie der Bericht aus der Stadt Aachen von 1947 zeigt.

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Wenn die Frage gestellt wird, wann diese Not der Jugend beginnt und wann sie endet, so muß geantwortet werden, daß sie bereits im Mutterleibe beginnt, und daß ihr Ende nicht abzusehen ist, solange die jetzigen unglücklichen Verhältnisse dauern.

Unterernährte Mütter bringen ihre Kinder zur Welt; es fehlt oft nicht nur an den notwendigsten Tüchern, die Säuglinge zu wickeln, sondern nahezu an allem, was zur Pflege und ausreichenden Ernährung der kleinen Erdenbürger unbedingt erforderlich ist. In der frühen Jugendzeit bleiben Mangel und Not ihre ständigen Begleiter. Kleine Freuden, wie Süßigkeiten oder sonstige Näschereien sind den Kindern fremd, Obst kennen sie kaum, sie können sich in den meisten Fällen noch nicht an trockenem Brot satt essen. Ein Glück, wenn sie vielleicht einmal zu Ostern ein Ei erhalten.

Wenn die Kinder mit der Vollendung des 6. Lebensjahres eingeschult werden, fehlt es nicht nur den Kindern an Lebensmitteln, sondern auch den Schulen an den notwendigen Lehrmitteln. In unzulänglichen Bänken sitzen sie hungernd und frierend in überfüllten Klassenräumen, in denen der Unterricht schichtweise stattfindet. Immer wieder erhalten die Lehrpersonen Entschuldigungsbriefe, daß die Kinder die Schule nicht besuchen können, weil es an Kleidung und Schuhen fehle [ . . . ]

Diese allgemeine Not der Jugend findet in vielen Fällen noch eine besondere Belastung. Bedauerlicherweise befinden sich noch viele Väter in Kriegsgefangenschaft, nachdem sie bereits durch den Krieg selbst jahrelang ihrer Familie entzogen worden sind. In den schwierigen Entwicklungsjahren ist aber die Mutter allein der Erziehung ihrer Kinder vielfach nicht gewachsen; die Mütter können in vielen Fällen dem Treiben ihrer Kinder keinen Einhalt gebieten, da ihnen die Kinder über den Kopf gewachsen sind.

Die Trennung der Ehegatten führt auch häufig zu einer sittlichen Gefahr für die Ehefrau und die Kinder. Durch die lange Dauer der Trennung sind die Ehebande häufig gelockert worden. In sehr vielen Fällen sind die wirtschaftliche Notlage und der Mangel an Lebensmitteln und Verbrauchsgütern die Triebfeder dafür, daß Frauen durch geschlechtliche Hingabe ihre Lebensverhältnisse zu verbessern suchen. Es ist hier häufig eine betrübliche Verwirrung der Moralbegriffe festzustellen. Mütter entschuldigen ihr Verhalten damit, daß sie Brot für die Kinder beschaffen müßten [ . . . ]

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