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Für und wider den Jazz: Joachim-Ernst Behrendt und Theodor W. Adorno (1953)

Im Herbst 1953 führen der Kulturphilosoph und Musiktheoretiker Theodor W. Adorno, der 1938 in die USA emigriert und 1949 an das Frankfurter Institut für Sozialforschung zurückgekehrt war, und der Musikjournalist Joachim-Ernst Berendt eine publizistische Kontroverse über den Wert der Jazz-Musik. Während Berendt im amerikanischen Jazz die originellste musikalische Errungenschaft des zwanzigsten Jahrhunderts sieht und den hohen Anspruch der komplexen, auf Improvisation gegründeten Strukturen des Jazz hervorhebt, sieht Adorno im Jazz eher eine Form des modernen Schlagers und wirft ihm Konventionalität und Konformismus vor. Umstritten ist zwischen den beiden auch, ob der Jazz einen totalitarismuskritischen Charakter hat, wie Berendt meint und auf die Verfolgung der Jazz-Fans unter dem NS-Regime und in der DDR verweist oder ob der Jazz kollektiver Massenbegeisterung ähnlich der in totalitären Systemen Vorschub leistet, wie Adorno meint.

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KRITIK

FÜR UND WIDER DEN JAZZ


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Der Jazz ist seit je eine Musik von wenigen für wenige gewesen, während die Schlagermusik das wahrscheinlich größte Publikum besitzt, das irgendeine heute bestehende Sache besitzt. Adorno sagt, daß der Jazz eine Sache sei, „an der es nichts zu verstehen gibt als Spielregeln“. Nun, zumindest das gibt es zu verstehen, daß man wissen muß, wovon man spricht, wenn man Jazz sagt. Was im übrigen die Spielregeln betrifft, so gibt es diese in jeder Kunst und vor allem in jeder Musizierweise. Gäbe es sie im Jazz nicht, wäre Adorno der erste, der ihm „Regellosigkeit“ vorwürfe. Nicht umsonst haben die Kultursprachen dasselbe Wort für Musizieren und Spielen: jouer, play, spielen . . .

Das Schlüsselwort von Adornos Kritik steht in der siebenten Zeile seines Artikels. Da wird von der „simpelsten melodischen, harmonischen, metrischen und formalen Struktur“ des Jazz gesprochen.

Beginnen wir mit der harmonischen Struktur. Sie entspricht in den modernen Jazz-Stilen derjenigen der symphonischen Musik eines Strawinsky und Hindemith. Die akkordischen Beziehungen in diesen Jazz-Stilen werden nach denselben Gesetzen erklärt, die Hindemith in seiner „Unterweisung im Tonsatz“ aufgestellt hat. Hier wie dort spielen die gleichzeitig normale und verminderte Terz – in der symphonischen Musik als „neutrale Terz“, im Jazz als blue notes – und die verminderte Quinte – bei Hindemith als Tritonus, im Jazz als „flatted fifth“ – die gleiche wesentliche Rolle. Die auf diese Weise gekennzeichnete Harmonik gehört zu den kompliziertesten harmonischen Systemen, die die Musikgeschichte kennt. Der Effekt mit der falsche-Töne-quäkenden-Klarinette (7 Seiten später) löst sich danach von selbst auf: im authentischen, guten Jazz gibt es keinen einzigen Ton, der sich nicht entweder nach dem alten funktional-harmonischen oder nach dem Hindemith’schen System widerspruchsfrei erklären ließe.

Was die „simpelste metrische Struktur“ betrifft, auf die Adorno immer wieder mit Worten wie „stur“ und „Synkopentrick“ usw. zu sprechen kommt, so haben die kompliziertesten Rhythmiker der Konzertmusik des 20. Jahrhunderts dem Jazz gerade wegen der Virtuosität, mit der in ihm immer wieder fünf oder sechs oder noch mehr verschiedene Rhythmen übereinander gelagert werden, ihren Tribut gezollt. Eine solche Überschichtung verschiedener Rhythmen ist in der großen symphonischen Musik Europas weitgehend unbekannt. Es gibt sie allenfalls in der vom Rhythmus her konzipierten Musik Afrikas und einiger fernöstlicher und indonesischer Musikkulturen.

Der Jazz schichtet Rhythmen mit der gleichen Virtuosität übereinander, mit der im Barock Melodien oder in der Spätromantik Harmonien einander überlagert wurden. Von diesen Überschichtungen sagt Fritz Usinger: „Was den Jazz zu der rhythmisch packendsten Musik der Gegenwart macht, ist die nicht anders als genial zu nennende künstlerische Verbindung von Zwang und Freiheit.“ Da Adorno für diese Verbindung keine Erklärung hat, bemüht er die analytische Psychologie und den „sadomasochistischen Typus“. Für das, was echt und was sadomasochistisch am Freiheitskampf der Neger und an ihrer Musik ist, haben wir bessere Gewährsleute: Faulkner auf seiten der Weißen, Langston Hughes auf seiten der Neger. Ist es schon soweit mit der weißen Zivilisation gekommen, daß ein Volk, das durch die Weißen von Anfang an zu einem Volk von Dienstboten, Leibeigenen und Hörigen erzogen und ganz bewußt auf deren sozialen Standard gehalten wurde, sich dann hinterher wegen seiner „Bereitschaft zu blindem Parieren“ Anlagen zur Ausbildung von sadomasochistischen Typen nachsagen lassen muß? Wer einmal einen schwarzen Dienstboten gehabt oder in einer Neger-Familie gelebt hat, weiß, wo der Unterschied zwischen helfendem Dienen und „blindem Parieren“ liegt.

Was bleibt schließlich, wenn wir zusammenfassen, von Adornos Behauptung der „simpelsten metrischen Struktur“ des Jazz? Es gab schon einmal eine Epoche, in der die Abwandlung des Tempos die Sünde wider den Geist der Musik schlechthin gewesen ist: den Barock. Ich bin noch bei keinem der Werke Bachs auf den Gedanken gekommen, daß „das Verbot, die Grundzählzeit mit dem Fortgang eines Stückes lebendig abzuwandeln“, das Musizieren einengt. Adorno wendet die Maßstäbe der romantischen Musik auf den Jazz an. Das kann man so wenig, wie man die Maßstäbe des Schlagers auf ihn anwenden kann. Es gibt hier immerfort solche Verwechslungen von Maßstäben.

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