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Grete Ujhely, „Aufruf zur sexuellen Toleranz” (1930)

Die in Österreich geborene Schriftstellerin und Journalistin Margaret (Grete) Ujhely (1903-1997) verfasste diesen „Aufruf“ für die Zeitschrift Der Querschnitt, einem Zeitgeistmagazin mit intellektuellem Anspruch, das 1921 von dem Galeristen Alfred Flechtheim gegründet wurde und bis zu seinem Verbot 1936 erschien. In ihrem Artikel beschreibt Ujhely humorvoll die Schattenseiten der sexuellen Revolution, welche besonders die Frauen zu spüren bekamen. Da sie jüdischer Abstammung war, floh Ujhely 1938 zunächst nach Großbritannien und wanderte schließlich in die USA aus, wo sie promovierte, den Psychologen und Sexualforscher Hugo Beigel heiratete und an seiner Fachzeitschrift für Sexualforschung mitarbeitete.

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Aufruf zur sexuellen Toleranz


Da sich in jenen Kreisen, die sich selbst für die führenden halten und die von der Neugierde, Anekdotensucht und Nachahmung der andern in dieser Ueberzeugung bestätigt werden, ein sexuelles Gewohnheitsrecht herausgebildet hat, das an Starrheit und Härte den mittelalterlichsten Moralsystemen nichts mehr nachgibt, dessen Strafsanktionen aber grausamer sind als je, — scheint es uns an der Zeit, für die sexuelle Freiheit des Individuums und insbesondere der Frau wieder einmal jene Lanze zu brechen, die sich durch alle Umschichtungen der Gesellschaft hindurch wenngleich metaphorisch so doch ungebrochen erhalten hat.

Die Tage, wo das Revolutionäre revolutionär war, sind für Europa (auf sexuellem Gebiet wenigstens) vorbei; und mit wunderbarer Geschwindigkeit sind aus den Forderungen Dogmen geworden. Unsere tapferen Großmütter kämpften für den Anteil der Frau am Sexualgenuß, als dessen wesentlichsten Bestandteil sie (wahrscheinlich, weil sie van der Velde nicht kannten) die zeitweilige Erneuerung des Partners agnoszierten. Ihre Enkelinnen und Enkel aber, in ihrer philosophischen Ungeschultheit, beginnen Recht mit Pflicht zu verwechseln.

Mit Wehmut erinnere ich mich eines klugen und reizenden Jugendfreundes, der einst in der Hitze der Diskussion die Behauptung formulierte, daß es zu den heiligsten Rechten des Menschen gehöre, frei von Moralheuchelei und Polizeispitzeltum, wenn anders er das Bedürfnis habe, auch am hellichten Mittag auf der Straße jener Tätigkeit nachzugehen, die die Natur vor das Kinderkriegen gesetzt hat. Er drückte sich übrigens volkstümlicher aus. Als aber seine Partnerin in der Diskussion (nehmen wir an, ich selbst sei es gewesen) ... als ich darauf kleinmütig einwandte: „Aber wenn ich doch gar nicht das Bedürfnis habe — muß ich denn?“ ... da erwiderte er mit der milden Einsicht des wahren Propheten, herzlich und begütigend: „Nein mein Kind. Wenn du nicht willst — mußt du nicht.“

Heute aber müssen wir. Ich meine nicht gerade auf der Straße, aber überhaupt. Ein Mädchen, eine Frau, die zum Beispiel einem Freund treu sein will; oder gar dem Gatten; oder die zum Beispiel im Winter einfach nicht erotisch gestimmt ist; oder die aus irgendwelchen anderen privaten Gründen ganz oder zeitweise keusch leben will, wird mit absoluter Gewißheit lächerlich. Eine Zeitlang läßt man sie vielleicht mit verletzendem Bedauern und gelegentlichen anzüglichen Bemerkungen über ihre provinzielle Herkunft, ihre Temperamentlosigkeit, ihre erotische Unbegabtheit in Frieden. Aber bald verhängt die Gesellschaft (in jenem weiteren Sinne verstanden, den jede engste für ihre Mitglieder hat) die ärgste Strafe über sie: die Lächerlichkeit.

Wie leicht zu ertragen waren dagegen die Intoleranz-Aeußerungen vergangener Jahrzehnte: das Getuschel neidischer Freundinnen; dramatische Szenen mit den Ehegatten; der Wegfall der Einladung zu dem Kaffeekränzchen der Frau Postdirektor; Elternfluch und erhöhte Dreistigkeit der umgebenden Herrenwelt! Aeußerungen, in denen Anerkennung, ja Neid zu deutlich spürbar waren, als daß sie ernstlich hätten verletzen können.

Aber nicht nur die Gesellschaft — also jene zwanzig Leute, mit denen man abwechselnd Tee trinkt, tanzt und Probleme erörtert — sondern jeder einzelne in ihr maßt sich das Verdammungsurteil über die unglückliche Frau an, die nicht will. Haben Sie schon einmal einem Herrn der Schöpfung Nein gesagt? (Natürlich haben Sie!) Die Folge ist für die nächste halbe Stunde ein populärer Vortrag aus dem Gebiet der Psychoanalyse, mit dem Hauptgewicht auf dem netten, handlichen Wort „Hemmungen“. Wenn das nichts nützt, schließt der Mann mit schöner logischer Sicherheit, daß Sie entweder frigid sind, oder dumm. Meist aber beides. Auf die immerhin auch mögliche Folgerung: daß Ihnen vielleicht seine Nase nicht paßt! — ist noch keiner gekommen. (Ich weiß, darauf kann er wieder zufolge des Adlerschen Konkurrenzunternehmens nicht kommen, weil er sich natürlich keine Minderwertigkeitskomplexe einwirtschaften darf. Aber uns ja!)

Eine Resolution folgenden Inhalts wäre also zeitgemäß, notwendig und befreiend:

I. Jede Frau hat das Recht, aber keine die Pflicht.
II. Wenn sie ablehnt, ist das keine persönliche Beleidigung.
III. Sie braucht deshalb weder eine Gans, noch ein Neutrum, noch lesbisch zu sein. (Sehr wichtig!)
IV. „Keuschheit“ ist weder ein Schimpfwort noch eine Verhöhnung, sondern ein etwas altmodischer Ausdruck für einen nicht weiter anstößigen Zustand.



Quelle: Grete Ujhely, „Aufruf zur sexuellen Toleranz“, Der Querschnitt 3 (1930), S.185-86.

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