GHDI logo


Aufruf zu Aktion (1992)

Zwei Jahre nach der Vereinigung Deutschlands klagten acht prominente Zeitgenossen, unter ihnen Politiker, Wissenschaftler und Journalisten wie Helmut Schmidt, Ernst Ulrich von Weizsäcker und Marion Dönhoff, über die Konzeptionslosigkeit der Politiker bezüglich der wichtigsten Probleme. Das Fehlen eines Konzepts, so die Autoren, gelte auch für die Bevölkerungspolitik. Sie fordern, die Bürger über die Lage zu informieren und ihnen die Folgen des demographischen Wandels bewusst zu machen. Zum Beispiel könnten die gegenwärtigen sozialen Besitzstände in der Zukunft nicht weiter aufrecht erhalten bleiben, aber auch das Verhältnis zur Einwanderung müsse überdacht werden.

Druckfassung     Dokumenten-Liste vorheriges Dokument      nächstes Dokument

Seite 1 von 2


Damit die Deutschen nicht aussterben


Die jüngsten Prognosen des Statistischen Bundesamtes über die künftige Entwicklung der Bevölkerung Deutschlands sind eindeutig. Ohne Veränderung der Geburtenrate und ohne Zuwanderungen wird sie bis Ende der neunziger Jahre um rund eine Million Menschen, im dann folgenden Jahrzehnt um 2,8 Millionen, zwischen 2011 und 2020 um 4,4 Millionen und zwischen 2021 und 2030 um 5,6 Millionen, insgesamt also um etwa 14 Millionen Menschen abnehmen.

Mit dieser Bevölkerungsabnahme geht eine nachhaltige Veränderung der Altersstruktur einher. Der Bevölkerungsanteil der über 60jährigen steigt von gegenwärtig reichlich einem Fünftel bis 2030 auf weit über ein Drittel. Der Anteil der über 80jährigen steigt im gleichen Zeitraum von knapp 4 v. H. auf knapp 7 v. H. der Bevölkerung. Etwa jeder 15. Einwohner Deutschlands ist dann älter als 80 Jahre. Der Anteil der unter 20jährigen geht demgegenüber von gegenwärtig einem Fünftel auf etwa ein Sechstel der Bevölkerung zurück. Die Zahl der über 60jährigen ist also um 2030 mehr als doppelt so hoch wie die Zahl der unter 20jährigen. Um 1950 lagen die Zahlenverhältnisse von über 60jährigen und unter 20jährigen genau umgekehrt.

Tendenziell unterscheidet sich diese Bevölkerungsentwicklung nicht von der anderer Industrieländer. Doch ist sie in Deutschland deutlich weiter fortgeschritten. Während sich in fast allen anderen Industrieländern das Wachstum der einheimischen Bevölkerung nur stark verlangsamt hat oder allenfalls zum Stillstand gekommen ist, ist die Bevölkerungszahl in Deutschland bereits rückläufig. Damit ist die Bevölkerungsentwicklung Deutschlands den Entwicklungen in vielen anderen Industrieländern etwa eine Generation voraus, was unter anderem bedeutet, daß Deutschland als erstes Land Erfahrungen mit einer zahlenmäßig schrumpfenden einheimischen Bevölkerung sammeln muß.

Gegenläufig zur Bevölkerungsentwicklung in den Industrieländern, namentlich in Deutschland, entwickelt sich die Bevölkerung in der übrigen Welt. Hier befinden sich die meisten Länder trotz stark abnehmender Kinderzahl pro Familie noch in einer Phase schnellen Wachstums, die nach Meinung der Vereinten Nationen bis Mitte des nächsten Jahrhunderts anhalten wird.

Bis dahin dürfte sich die Weltbevölkerung von derzeit etwa 5,5 Milliarden auf reichlich 11 Milliarden Menschen verdoppeln. Im gleichen Zeitraum wird sich der Anteil der Europäer an der Weltbevölkerung von etwa 14 v. H. auf etwa 7 v. H. halbieren. Der Anteil der Bevölkerung Deutschlands würde sogar von gegenwärtig 1,5 v. H. auf 0,6 v. H. zurückgehen.

Die Bevölkerung Deutschlands hat nun verschiedene Optionen:

– Sie kann Vorsorge treffen für ihren zahlenmäßigen Rückgang und den Anstieg des alten Bevölkerungsteils.
– Sie kann ihren zahlenmäßigen Rückgang durch Zuwanderer ausgleichen und dadurch zugleich den Anstieg des alten Bevölkerungsteils verlangsamen.
– Sie kann versuchen, ihre Geburtenrate wieder auf ein bestandserhaltendes Niveau zu heben.
– Sie kann alle drei Vorgehensweisen miteinander verknüpfen.
– Sie kann alles treiben lassen.

Jede dieser Optionen hat ihre spezifischen Vor- und Nachteile.

[ . . . ]

Allerdings ist weder die Politik noch die Bevölkerung auf diese Veränderungen eingestellt. Faktisch folgen beide der vierten Strategie und lassen der Entwicklung ihren Lauf. Diese Strategie ist die bei weitem risikoreichste. Ihr Scheitern ist beinahe unvermeidlich. Ob die Schäden, die sie schon jetzt in Wirtschaft und Gesellschaft anrichtet, jemals reparabel sind, ist ungewiß. Deshalb ist für Deutschland ein klares bevölkerungspolitisches Konzept zu entwickeln und hierüber der notwendige politische und gesellschaftliche Konsens herbeizuführen. Kernstücke dieses Konzepts sind:

erste Seite < vorherige Seite   |   nächste Seite > letzte Seite