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Novalis, „Die Christenheit oder Europa” (1799)

In seinem kurzen, von Tragödien heimgesuchten Leben schrieb Novalis (1772-1801), eigentlich Friedrich Philipp von Hardenberg, meisterhafte Gedichte, welche zu den Höhen der Frühromantik aufstiegen. In diesem 1799 verfassten, doch erst 1826 veröffentlichten Essay setzt Novalis die aufkeimende deutsche historistische Vorstellungskraft ein, um eine philosophische Geschichte der westlichen Christenheit vom Mittelalter bis zur bedeutungsschweren Epoche der Französischen Revolution zu skizzieren. Novalis bedient sich (wie bekanntermaßen auch Hegel) eines dialektischen Stils, der die historische Wechselwirkung geistig-kultureller Gegensätze und Widersprüche unterstreicht. Seine Vision einer wiedergeeinten Christenheit, herbeigeführt durch ein „ehrwürdiges europäisches Consilium“, greift nicht in reaktionärer Weise auf eine unwiederbringliche Vergangenheit zurück, sondern liefert vielmehr eine Art romantische Utopie der Moderne.

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Die Christenheit oder Europa

Novalis


Es waren schöne glänzende Zeiten, wo Europa ein christliches Land war, wo Eine Christenheit diesen menschlich gestalteten Welttheil bewohnte; Ein großes gemeinschaftliches Interesse verband die entlegensten Provinzen dieses weiten geistlichen Reichs. – Ohne große weltliche Besitzthümer lenkte und vereinigte Ein Oberhaupt, die großen politischen Kräfte. – Eine zahlreiche Zunft zu der jedermann den Zutritt hatte, stand unmittelbar unter demselben und vollführte seine Winke und strebte mit Eifer seine wohlthätige Macht zu befestigen. Jedes Glied dieser Gesellschaft wurde allenthalben geehrt, und wenn die gemeinen Leute Trost oder Hülfe, Schutz oder Rath bei ihm suchten, und gerne dafür seine mannigfaltigen Bedürfnisse reichlich versorgten, so fand es auch bei den Mächtigeren Schutz, Ansehn und Gehör, und alle pflegten diese auserwählten, mit wunderbaren Kräften ausgerüsteten Männer, wie Kinder des Himmels, deren Gegenwart und Zuneigung mannigfachen Segen verbreitete. Kindliches Zutrauen knüpfte die Menschen an ihre Verkündigungen. – Wie heiter konnte jedermann sein irdisches Tagewerk vollbringen, da ihm durch diese heilige Menschen eine sichere Zukunft bereitet, und jeder Fehltritt durch sie vergeben, jede mißfarbige Stelle des Lebens durch sie ausgelöscht, und geklärt wurde. Sie waren die erfahrnen Steuerleute auf dem großen unbekannten Meere, in deren Obhut man alle Stürme geringschätzen, und zuversichtlich auf eine sichre Gelangung und Landung an der Küste der eigentlichen vaterländischen Welt rechnen durfte.

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