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Johann Wolfgang von Goethe, Auszüge aus Die Leiden des jungen Werthers (1774)

Johann Wolfgang von Goethe (1749-1832), der Sohn einer wohlhabenden, großbürgerlichen Familie, war eine überragende Persönlichkeit im literarischen und kulturellen Leben des späten 18. und frühen 19. Jahrhunderts. Seine Genialität als Dichter und Literat wurde in ganz Europa anerkannt und gefeiert. In seinen frühen Werken, darunter Die Leiden des jungen Werthers, übte er im Namen des menschlichen Gefühls und der ästhetisch aufgeladenen Natur eine leidenschaftliche Kritik am engen Rationalismus der Aufklärung. Doch als Erbe des aufklärerischen Universalismus sprach er sich auch für eine gemeinsame Humanität und gegen das elitäre Denken des aristokratischen Ancien Régime aus. Viele grundlegende Themen der späteren deutschen und europäischen Romantik sind deutlich erkennbar in diesem Text, der die Geschichte eines jungen Mannes namens Werther erzählt, der sich in Charlotte verliebt, eine geistig talentierte und gefühlvolle Frau, die mit dem rationalistischen Arzt Albert verheiratet ist.

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Die Leiden des jungen Werthers

Johann Wolfgang von Goethe


Erstes Buch

am 4. May.

Wie froh bin ich, daß ich weg bin! Bester Freund, was ist das Herz des Menschen! Dich zu verlassen den ich so liebe, von dem ich unzertrennlich war und froh zu seyn! Ich weiß du verzeihst mir’s. Waren nicht meine übrigen Verbindungen recht ausgesucht vom Schicksal, um ein Herz wie das meinige zu ängstigen? Die arme Leonore! Und doch war ich unschuldig. Konnt’ ich dafür, daß, während die eigensinnigen Reize ihrer Schwester mir eine angenehme Unterhaltung verschafften, daß eine Leidenschaft in dem armen Herzen sich bildete? Und doch – bin ich ganz unschuldig? Hab’ ich nicht ihre Empfindungen genährt? hab’ ich mich nicht an den ganz wahren Ausdrücken der Natur, die uns so oft zu lachen machten, so wenig lächerlich sie waren, selbst ergetzt, hab’ ich nicht – O was ist der Mensch, daß er über sich klagen darf! Ich will, lieber Freund, ich verspreche dir’s, ich will mich bessern, will nicht mehr ein bißchen Übel, das uns das Schicksal vorlegt, wiederkäuen, wie ich’s immer gethan habe; ich will das Gegenwärtige genießen, und das Vergangene soll mir vergangen seyn. Gewiß du hast Recht Bester, der Schmerzen wären minder unter den Menschen, wenn sie nicht – Gott weiß warum sie so gemacht sind! – mit so viel Emsigkeit der Einbildungskraft sich beschäftigten, die Erinnerungen des vergangenen Übels zurück zu rufen, eher als eine gleichgültige Gegenwart zu ertragen.

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