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Karl Freiherr vom und zum Stein, Prager Denkschrift (Ende August 1813)

Während der Befreiungskriege reiste Karl Freiherr vom und zum Stein (1757-1831) nahe an die Kriegsfronten, um erneut Einfluss auf die deutsche Politik zu gewinnen. Bei seinem Aufenthalt in Prag richtete Stein diese Denkschrift, die Ende August entstand, sowohl an den russischen Zaren Alexander als auch an den preußischen Staatskanzler Karl August Freiherr von Hardenberg (1750-1822). Abgesehen von der wünschenswerten, jedoch undurchführbaren Möglichkeit eines unter einem großen Kaiser geeinten Deutschland (wie dies im 10. und 13. Jahrhundert der Fall gewesen war), plädiert Stein für die Eliminierung des französischen Einflusses, die Auflösung des Rheinbundes, und die Beseitigung der mit der „Zerstückelung Deutschlands in 36 Despotien“ verbundenen Schwäche. Er tritt dabei für die Wiederherstellung eines gestärkten (österreichischen) Kaisertums ein (exekutive Gewalt zur Aufsicht über die Reichsgerichte, Leitung der Außenpolitik und Militärangelegenheiten sowie der Finanzen) und für die Stärkung des Reichstags bei gleichzeitiger Schwächung der Ständegewalten (z. B. Entzug des Rechts, Krieg zu initiieren, und die Übertragung dieses Rechts an den Kaiser und den Reichstag). Wenngleich diese Vision die Bedeutung Österreichs deutlich aufwertet, sieht Stein auch für Preußen eine wichtige Rolle vor, besonders bei der Verteidigung Deutschlands.

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Die Fortdauer der Zerstückelung Deutschlands in 36 Despotien ist folglich verderblich für die bürgerliche Freiheit und für die Sittlichkeit der Nation und verewigt den überwiegenden Einfluß Frankreichs über eine Bevölkerung von 15 Mill[ionen] zum Nachteil für sie selbst und für die Ruhe der übrigen Mächte Europas. Benutzen die an der Spitze der deutschen Angelegenheiten stehenden Staatsmänner die Krise des Moments nicht, um das Wohl ihres Vaterlandes auf eine dauerhafte Art zu befestigen, beabsichtigen sie nur, auf eine leichte, bequeme Art einen Zwischenzustand herbeizuführen, durch welchen die nächsten Zwecke einer vorübergehenden Ruhe, einer etwas erträglicheren Lage erreicht werden, so werden Zeitgenossen und Nachwelt sie des Leichtsinns, der Gleichgültigkeit gegen das Glück des Vaterlands mit Recht anklagen und als daran schuldig brandmarken.

Die Frage, welche Verfassung soll Deutschland erhalten als Resultat des zwanzigjährigen Krieges, kann auf keine Art umgangen werden, das Wohl seiner Bewohner, das Interesse Europas, die Ehre und Pflicht der die großen Angelegenheiten der Nationen leitenden Staatsmänner erfordert, daß man sie mit allem dem Ernst, der ihrem Umfange, und mit der tiefen Besonnenheit, die ihrer Heiligkeit gebührt, erwäge und Flachheit, Leichtsinn, Genußliebe entferne.

Die Art der Auflösung der Aufgabe muß zwar das Erreichbare, aber auch das unter dieser Bedingung möglichst Vollkommene bezwecken.

Das Wünschenswerte, aber nicht das Ausführbare, wäre ein einziges, selbständiges Deutschland, wie es vom 10.–13. Jahrhundert unsere großen Kaiser kräftig und mächtig beherrschten. Die Nation würde sich zu einem mächtigen Staat erheben, der alle Elemente der Kraft, der Kenntnisse und einer gemäßigten und gesetzlichen Freiheit in sich faßt. Dieses schöne Los ist ihr nicht beschieden, auf anderen Wegen muß sie ihre innere gesellschaftliche Entwicklung zu erreichen suchen, die dieser entgegenstehenden Hindernisse beseitigen, neue Einrichtungen und Verfassungen schaffen.

Deutschland hat eine Richtung genommen zu einer Trennung in zwei größere Teile, in das nördliche und südliche. In dem ersteren besaß Preußen, in dem letzteren Österreich ein Übergewicht in den öffentlichen Angelegenheiten. Verschiedenheit der ursprünglichen Stämme seiner Bewohner, der Sachsen und Franken, der Sitten, der Religion, der Gemeindeeinrichtungen veranlaßten und beförderten diese Trennung, und sie würde ohne Schwierigkeit in dem gegenwärtigen Augenblicke können ausgeführt werden. Ist es möglich, die Einheit der Nation zu erhalten, so hat dieses ohnstreitig einen großen Vorzug in Hinsicht auf Macht und innere Ruhe. In diesem Falle ist es nötig, die Macht des Kaisers oder des Oberhaupts des Staates noch mehr zu verstärken. [ . . . ]

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