GHDI logo


SD-Bericht an die Parteikanzlei über „Grundfragen der Stimmung und Haltung des deutschen Volkes” (29. November 1943)

Da das NS-Regime den Kriegswillen der deutschen Zivilbevölkerung als entscheidende Voraussetzung für einen Endsieg ansah, beschäftigten sich verschiedene Partei- und Polizeiinstanzen mit der Überwachung der allgemeinen Stimmungslage. Der folgende Report des Sicherheitsdienstes (SD) der SS vom 29. November 1943 verdeutlicht diese Kontrolle der Heimatfront.

Druckfassung     Dokumenten-Liste vorheriges Dokument      Beginn des nächsten Kapitels

Seite 1 von 2


[ . . . ]

Die ersten schweren Erschütterungen stellten sich mit den Rückschlägen der beiden letzten Kriegswinter in Russland ein. Damals tauchten zum ersten Mal Zweifel auf, ob die Führung die gewaltigen Probleme dieses Krieges noch ganz und gar zu übersehen vermöge und ob sie noch in der Lage sei, sie völlig zu meistern. Im Verlauf der Entwicklung dieses Jahres wurde noch häufiger die Frage aufgeworfen, ob die Führung wirklich „alles richtig gemacht“ habe, sowohl im Hinblick auf die militärischen Operationen wie auf die Maßnahmen in der Heimat.

Bei solchen Betrachtungen macht die Bevölkerung einen sehr deutlichen Unterschied zwischen dem Führer und den übrigen führenden Persönlichkeiten. Während verhältnismäßig häufiger ein Vertrauensschwund zu einzelnen führenden Persönlichkeiten oder Führungsstellen festgestellt werden kann, ist das Vertrauen zum Führer nahezu unerschüttert. Es ist zwar verschiedenen starken Belastungsproben ausgesetzt gewesen, vor allem nach dem Fall Stalingrads, doch zeigte sich im Verlauf der letzten Monate trotz der Rückschläge an allen Fronten eine zunehmende Festigung des Vertrauens zum Führer. Es erreichte in jüngster Zeit Höhepunkte bei der Befreiung Mussolinis und der Führerrede am Vorabend des 9. November. „Hier glaubte das deutsche Volk den Führer in seiner ganzen Größe wiederzuerkennen.“ Das Vertrauen zu ihm habe durch die schmerzlichen Krisen des 4. Kriegsjahres eine derartige Läuterung erfahren, daß es selbst durch ungünstige politische oder militärische Entwicklungen kaum noch zu erschüttern sei. Ausschließlich in der Person des Führers erblicke man vielfach die Garantie eines erfolgreichen Kriegsabschlusses. Die Vorstellung, daß dem Führer einmal etwas zustoßen könne, sei für die Volksgenossen unausdenkbar.

Während so der Führer als der einzige angesehen werde, der die schwierige Lage der Gegenwart und die Probleme der Zukunft meistern könne, werde der übrigen Führung des Reiches kein unbedingtes Vertrauen mehr entgegengebracht. Besonders das Nichteintreffen von Prophezeiungen und Versprechungen habe bei vielen Volksgenossen das Vertrauen zu dem Wort einzelner führender Männer stark beeinträchtigt:

[ . . . ]

Ein stärkeres Absinken des Vertrauens sei vor allem gegenüber den öffentlichen Führungsmitteln festzustellen. Hier hätten die zeitweiligen Bemühungen, das wahre Bild ernster Lagen zu verschleiern oder bedrohliche militärische Entwicklungen zu bagatellisieren, z. B. „aus Rückzügen Erfolge zu machen“, oder „gestern als wertvoll bezeichnete Gebiete heute als nicht so bedeutungsvoll hinzustellen“, oder „Zeiten des Abwartens und Schweigen durch Verlegenheitsmeldungen über Vorgänge in Indien, über plutokratische Auswüchse in England oder Amerika auszufüllen“, das noch in den letzten Kriegsjahren vorhanden gewesene Vertrauen zur Presse und zum Rundfunk weitgehend untergraben.

In ihrer Neigung zu sachlicher Offenheit und ihrer Abneigung gegen Beschönigungsversuche habe die Bevölkerung deshalb allmählich begonnen, zwischen den Zeilen zu lesen und in der Beurteilung der Lage häufig eigene Wege zu gehen, insbesondere in steigendem Maße sich der Nachrichtengebung des neutralen oder feindlichen Auslandes zuzuwenden.

erste Seite < vorherige Seite   |   nächste Seite > letzte Seite