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Der Sozialphilosoph Jürgen Habermas über die Bedeutung einer kritischen Erinnerung (7. November 1986)

In diesem Aufsatz greift der Sozialphilosoph Jürgen Habermas die revisionistischen Bestrebungen konservativer Intellektueller an. Er verweist darauf, daß die bundesrepublikanische Identität auf der Übernahme von Verantwortung beruhe und macht die Bedeutung einer kritischen Erinnerung als Grundlage der Demokratie deutlich.

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Vom öffentlichen Gebrauch der Historie: Das offizielle Selbstverständnis der Bundesrepublik bricht auf


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Jaspers’ Fragen Heute

Nach wie vor gibt es die einfache Tatsache, daß auch die Nachgeborenen in einer Lebensform aufgewachsen sind, in der das möglich war. Mit jenem Lebenszusammenhang, in dem Auschwitz möglich war, ist unser eigenes Leben nicht etwa durch kontingente Umstände, sondern innerlich verknüpft. Unsere Lebensform ist mit der Lebensform unserer Eltern und Großeltern verbunden durch ein schwer entwirrbares Geflecht von familiären, örtlichen, politischen, auch intellektuellen Überlieferungen – durch ein geschichtliches Milieu also, das uns erst zu dem gemacht hat, was und wer wir heute sind. Niemand von uns kann sich aus diesem Milieu herausstehlen, weil mit ihm unsere Identität, sowohl als Individuen wie als Deutsche, unauflöslich verwoben ist. Das reicht von der Mimik und der körperlichen Geste über die Sprache bis in die kapillarischen Verästelungen des intellektuellen Habitus. Als könnte ich beispielsweise, wenn ich an ausländischen Universitäten lehre, je die Mentalität verleugnen, in die die Spuren der sehr deutschen Denkbewegung von Kant bis Marx und Max Weber eingegraben sind. Wir müssen also zu unseren Traditionen stehen, wenn wir uns nicht selber verleugnen wollen. Daß es für solche Ausweichmanöver keinen Grund gibt, darin bin ich sogar mit Herrn Dregger einig. Aber was folgt aus dieser existentiellen Verknüpfung mit Traditionen und Lebensformen, die durch unaussprechliche Verbrechen vergiftet worden sind? Für diese Verbrechen konnte einmal eine ganze zivilisierte, auf Rechtsstaat und humanistische Kultur stolze Bevölkerung haftbar gemacht werden – im Jaspersschen Sinne einer kollektiven Mithaftung. Überträgt sich etwas von dieser Haftung auch noch auf die nächste und die übernächste Generation? Aus zwei Gründen, denke ich, sollten wir die Frage bejahen.

Da ist zunächst die Verpflichtung, daß wir in Deutschland – selbst wenn es niemand sonst mehr auf sich nähme – unverstellt, und nicht nur mit dem Kopf, die Erinnerung an das Leiden der von deutschen Händen Hingemordeten wachhalten müssen. Diese Toten haben erst recht einen Anspruch auf die schwache anamnetische Kraft einer Solidarität, die Nachgeborene nur noch im Medium der immer wieder erneuerten, oft verzweifelten, jedenfalls umtreibenden Erinnerung üben können. Wenn wir uns über dieses Benjaminsche Vermächtnis hinwegsetzten, würden jüdische Mitbürger, würden überhaupt die Söhne, die Töchter und die Enkel der Ermordeten in unserem Lande nicht mehr atmen können. Das hat auch politische Implikationen. Jedenfalls sehe ich nicht, wie sich das Verhältnis der Bundesrepublik beispielsweise zu Israel auf absehbare Zeit ‚normalisieren’ könnte. Manch einer führt freilich die ‚geschuldete Erinnerung’ nur noch im Titel, während der Text die öffentlichen Manifestationen eines entsprechenden Gefühls als Rituale falscher Unterwerfung und als Gesten geheuchelter Demut denunziert. Mich wundert, daß diese Herrschaften – wenn denn schon christlich geredet werden soll – nicht einmal zwischen Demut und Buße unterscheiden können.

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