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Die unterschiedliche Anziehungskraft eines vereinten Europas (25. September 1987)

Mit der Einheitlichen Europäischen Akte wurden die Kompetenzen der EG erweitert. Damit stieg deren internationale Anziehungskraft, doch in den Mitgliedsstaaten nahm die Kritik zu. Der Autor kritisiert, dass die europäische Bürokratie unfähig sei, überfällige Reformen durchzuführen; eine politische Integration sei angesichts der zu bewältigenden Probleme weiterhin nicht in Sicht.

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Zweimal Europa


Das Ansehen der Europäischen Gemeinschaft wechselt mit dem Standort des Betrachters. Traut man einschlägigen Umfragen, so findet die EG bei den Bürgern ihrer Mitgliedsstaaten immer weniger Anerkennung; in Ländern, die der Gemeinschaft nicht angehören, wird „Europa“ demgegenüber immer stärker als Einheit und als dritter großer Akteur der Weltpolitik – nach den Vereinigten Staaten und der Sowjetunion – wahrgenommen.

Beide Urteile haben ihre Berechtigung. Dem Blick von innen bieten sich vor allem Probleme: Seit langem wird über die Bürokratisierung und Regelungswut der Brüsseler Zentrale geklagt. Ein jährlich wiederkehrender Haushaltsstreit droht die Gemeinschaft demnächst zu lähmen; eine Neuregelung der EG-Finanzierung scheitert bisher jedoch daran, daß sich die Mitgliedsstaaten nicht auf eine Reform der unsinnigen gemeinsamen Agrarpolitik einigen können. Neuerdings gibt es auch Streit darüber, welche Rolle die Gemeinschaft in der Forschungs- und Technologie-Politik spielen solle. Von den Regierungschefs beschlossen ist der von Kommissionspräsident Delors vorgeschlagene Plan, bis zum Jahr 1992 den Binnenmarkt zu vollenden, ob allerdings dieser Zeitplan angesichts wirtschaftlicher Disparitäten und ächzender Entscheidungsmechanismen eingehalten werden kann, ist schon jetzt fraglich. Den Europäern erscheint „ihre“ Gemeinschaft zunehmend als ein Vehikel, das nicht in Fahrt kommt, weil es andauernd repariert werden muß.

Mit zunehmender Entfernung von Europa wächst die Anziehungskraft der Europäischen Gemeinschaft. Viele Länder der Dritten Welt, die nicht von einer der beiden Supermächte abhängig werden wollen, richten ihre Blicke hoffnungsvoll auf die „dritte Weltmacht Europa“. Mittel- oder lateinamerikanische Politiker bekräftigen immer wieder, daß sie in der EG nicht nur einen wichtigen Partner, sondern auch ein nachahmenswertes Modell sähen: Die bei uns erreichte politische Einheit (oder zumindest Einigkeit) erscheint in Regionen, in denen Bürgerkriege herrschen und zwischenstaatliche Konflikte oft noch mit der Waffe ausgetragen werden, als ein geradezu paradiesischer Zustand. Da mögen Illusionen über die politische Handlungsfähigkeit und die wirtschaftlichen Möglichkeiten der Gemeinschaft im Spiele sein. Doch daß es sich nicht nur um eine durch große Distanz bedingte Fehleinschätzung handelt, beweisen Entwicklungen bei unseren Nachbarn, die nicht Mitglieder der EG sind.

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